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Kinderseelen Verstehen

Kinderseelen Verstehen

Titel: Kinderseelen Verstehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Krenz
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wahrscheinlich sagen: »Ich bin ein Kind – holt mich hier raus!« Ihr Bewegungs- und Explorationsdrang entstand infolge der vielen Einschränkungen, durch die sie den Eindruck gewinnen musste, anders sein zu sollen, als sie war. Die Erwartungen der Eltern, sie möge sich vorsichtig bewegen, sich nicht schmutzig machen, Unfallgefahren aus dem Wege gehen und stattdessen lieber am Tisch sitzen und basteln, legten sich wie eine schwere Last auf Patrizias Aktivitätswunsch und brachten sie in ein seelisches Ungleichgewicht. Auf der einen Seite bekam sie mit, was sich ihre Eltern von ihr wünschten, auf der anderen Seite hatte sie ganz andere Vorstellungen von einer aktiven Lebensgestaltung. Diese Ambivalenz setzte Patrizia unter Spannung. Es ist aus der Neurobiologie bekannt, dass erlebte Spannungszustände die Hormone Cortisol und Adrenalin freisetzen, die in der Folge für einen ausgeprägten Bewegungsdrang sorgen. Und diesem kommt Patrizia folgerichtig nach.
    → Praktische Hinweise
    Auch wenn es aus anthropologischer Sicht berechtigte und ernst zu nehmende Hinweise dafür gibt, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede in einem Dispositionsgefüge gibt, so bedeutet das in keinem Fall, geschlechtsspezifische Differenzierungen dogmatisch durchzusetzen. Patrizia ist ein sehr lebendiges, aktives, neugieriges, handlungsorientiertes Mädchen, und dafür braucht sie ein entsprechend lebendiges Umfeld. Das bezieht sich sowohl auf die Art der Kommunikation zwischen den Eltern und den ErzieherInnen und ihr als auch auf die Alltagsgestaltung und ihr Handlungserleben im Elternhaus und im Kindergarten.
    »Dann tue ich mir eben selbst weh« – Wenn Kinder voller Ohnmachtsspannung stecken
    Lukas ist sieben Jahre alt. Er besucht seit zwei Jahren die Grundschule und zeichnet sich durch sehr gute Leistungen aus. Wenn in der Klasse von der Lehrerin Fragen gestellt werden, ist er der Erste, der sich meldet, und seine Antworten sind nahezu immer richtig. Die Hausaufgaben erledigt er perfekt, er hat eine außergewöhnlich gute Schrift und stört in keiner Weise den Unterricht. Lukas ist aus Sicht der Lehrerin und auch der Eltern ein »idealer Schüler«.
    Allerdings fällt seiner Lehrerin schon seit Beginn der Schulzeit auf, dass Lukas sich selbst in bestimmten Situationen entweder leicht auf die Wangen schlägt oder in seine rechte Hand beißt, und zwar so stark, dass seine Zahnabdrücke in der Haut noch lange zu sehen sind. Sein Handrücken ist immer rötlich gefärbt und hat auch schon einige Verschorfungen. Bei genauerer Beobachtung sind es Situationen, in denen der Junge entweder – nach eigener Einschätzung – nicht schnell genug eine Antwort geben kann und ihm punktuell die Lösungen oder Worte nicht sofort einfallen oder wenn er mit seinen Antworten nicht vollends zufrieden ist.
    Lukas lacht wenig, verhält sich überall sehr kontrolliert, und es ist für die Lehrerin kaum möglich, seine aktuellen Gefühlsstimmungen zu erfassen. Bei einem Elternsprechtag meinten die Eltern, als sie von der Lehrerin auf diesen Umstand angesprochen wurden: »Lukas ist sehr ehrgeizig. Bei ihm muss eben alles sofort perfekt sein. Schon im Kindergarten hat er dieses Verhalten gezeigt und wir versuchen schon sehr lange, ihm das Hauen und Beißen abzugewöhnen. Ab und zu merkt er es und schreckt auf. Doch wenn er sein Kontrollverhalten vergisst, dann überkommt es ihn. Wir haben schon inzwischen gelernt, etwas damit zu leben, obgleich wir ihn täglich daran erinnern. Er braucht eine starke Lenkung, sonst macht er schnell, was er will.«
    → Der entscheidende Ausschnitt aus dem biografischen Hintergrund
    Lukas wächst zusammen mit zwei älteren Schwestern (zehn und 13 Jahre alt) in einem sehr strengen und stark religiös geprägten Elternhaus auf, in dem es starre Richtlinien und normierte Verhaltenserwartungen für » richtiges und gutes Verhalten« gibt, die die Eltern in einer autoritär-freundlichen Erziehungsatmosphäre vorgeben. Partizipation – also ein Mitspracherecht oder gar ein Mitbestimmungsrecht – ist in der Familie ein Fremdwort. Solche Begriffe werden von ihnen sogleich mit einer antiautoritären Haltung gleichgesetzt und rigoros abgelehnt. Sie sehen sich in der Verantwortung, ihren Kindern beizubringen, »was sich gehört und was nicht zulässig ist«. Wenn die Kinder etwas unternommen haben, was verboten oder zumindest nicht erwünscht war, folgt spätestens am Abend eine »Strafpredigt« durch den Vater. Die Kinder erleben

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