Kinderstation
Damals hielt ich ein Konsilium mit allen mir bekannten Klinikern ab, und es ergab sich, daß vereinzelt bei Milzexstirpationen solche Komplikationen eintraten. Das beruhigte mich etwas. Bis dieser Kallenbach zu mir kam –«
»Wer ist Kallenbach?«
»Der Krankenpfleger, der jetzt eine monatliche Rente von 200 Mark von mir haben will.« Professor Karchow nahm die Goldbrille wieder ab, putzte sie wieder mit der Krawatte und setzte sie auf. Die Erregung ließ die Gläser beschlagen, es war, als ziehe Dampf aus seinen Poren. »Er sagte mir etwas, was mich umwarf.«
»Ein Krankenpfleger – dir?« Staatsanwalt Dr. Allach lächelte mild. »Lieber Hans, mir scheint, hier wird eine Mücke wirklich zum Elefanten aufgeblasen.«
»Professor zu sein, ist nicht gleichbedeutend mit Allwissenheit.« Karchow starrte auf das Muster des großen Teppichs, der das ganze Zimmer auslegte. »Kallenbach hatte viel Nachtdienst. Was tut man in Nächten, in denen man nicht schlafen darf? Man liest! Auf jeden Fall tat es Kallenbach. Meine jungen Wachärzte halten sich mit anderen Mitteln wach. Bei diesen Lektüren war Kallenbach auf den Bericht vom Tode des SS-Obergruppenführers Heydrich gestoßen. Bekanntlich wurde am 25. Mai 1942 auf den damaligen Stellvertretenden Reichsprotektor in Prag ein Bombenattentat verübt, das ihm die Milz wegriß. Professor Hohlbaum exstirpierte die Milz, gab nach dem Eingriff Tetanus- und Gasödemserum, alles verlief glatt – wie bei uns! Und doch starb am achten Tag nach der Operation Heydrich – an einer Mediastinitis, wie unsere beiden Kinder! Also eine berühmte Parallele.«
»Na und?« fragte Dr. Allach verständnislos.
»Es kommt gleich.« Professor Karchow griff nach dem Glas seines Freundes und trank es leer. »Krankenpfleger Kallenbach kam mit dem Buch zu mir und zeigte mir die Stelle. Da steht in dem Bericht, daß Professor Hohlbaum nach der Operation eine Unterredung mit dem Prager Stadtphysikus Dr. Kindermann hat. Und dieser Dr. Kindermann berichtet, daß er in seinem Institut Versuche angestellt und beobachtet hat, daß Hunde und Katzen, denen man die Milz entfernte, Serumgaben nicht vertrugen und an einer – Mediastinitis eingingen!« Karchow sprang auf und trat unruhig an das Fenster. »Es war wie ein Blitzschlag, Heinz! Ich erinnerte mich plötzlich: Bis heute ist noch ungeklärt, ob man nach einer Milzentfernung Serum verabreichen darf. Mal geht es gut, mal ist der Verlauf infaust. Bei meinen zwei kleinen Patienten war es so … und ich habe mir lange ausreden müssen, daß ich durch Unwissenheit zum Mörder der Kleinen geworden bin. Und nun kommt Kallenbach –«
»Blödsinn, Hans!« Dr. Allach sprang ebenfalls auf. »Niemand kann dir daraus einen Vorwurf machen. Wenn man bis heute nicht weiß, ob nach der Entfernung der Milz –«
»Was besagt das?« unterbrach Karchow. »Eben weil man es nicht weiß, hätte ich alle Eventualitäten ausschalten müssen … wenn ich daran gedacht hätte. Aber das ist es ja. Ich habe nicht daran gedacht … übrigens Darbeck und Vennomann auch nicht. Sie standen ja auch vor einem Rätsel.«
»Und dieser Kallenbach?«
»Für ihn ist dieses Wissen nun Kapital.« Professor Karchow wandte sich zu seinem Freund um. »Du als Staatsanwalt weißt ja, wie so etwas läuft. Informationen an die Presse … und mit ein paar Schlagzeilen wirst du zermalmt und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Was nützen da Proteste und Gegendarstellungen? Die Masse des Volkes hat es aufgesogen wie Rauschgift, sie will dieses Opfer haben. Karchow an die Wand! Steinigt ihn! Er hat zwei Kinder umgebracht! Man wird so lange trommeln, bis ich am Ende bin.« Er hob mit einer fast kindlichen Hilflosigkeit die Arme. »Was soll ich machen, Heinz? Ich hatte, bevor du kamst, eine halbe Stunde Zeit, darüber nachzudenken. Es steht mehr auf dem Spiel als meine Stellung als Chef von ›Bethlehem‹. Ich habe eine Familie, ich habe eine Frau aus adeligem Hause, ich habe eine gesellschaftliche Stellung – ein Skandal fegt alles weg und schadet völlig Unschuldigen.«
»Und wie denkst du dir die Lösung?«
»Ich werde diesem Kallenbach seine 200 DM monatlich zahlen.«
»Unmöglich!«
»200 DM merke ich nicht. Insoweit hat Kallenbach recht. Wenn man sich mit 200 DM seinen ruhigen Lebensabend erkaufen kann –«
»Hans! Was ist aus dir geworden?« Dr. Allach ging zum Schreibtisch und legte die Hand auf das Telefon. »Ganz davon abgesehen, daß es untragbar ist, dich in den Händen eines
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