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Kinderstation

Kinderstation

Titel: Kinderstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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und Lederschlaufen.
    Leise, auf Zehenspitzen, schlich sie sich heran, beugte sich dann vor und küßte Dr. Julius in den Nacken. Er fuhr zusammen und drehte sich schnell um.
    »Was ist los, Bernd?« fragte Renate Vosshardt. »Du bist zusammengezuckt, als seist du ein ertappter Täter.« Sie setzte sich mit einem Schwung auf den Tisch und strich den hochgerutschten Rock herunter, eine bloße Gewohnheit, denn Bernd Julius war die Anatomie Renates nichts Unbekanntes mehr.
    »Was hast du da überhaupt für Strippen in der Hand? Und Zeichnungen?«
    Sie nahm die Papiere und hielt sie ans Licht. Es waren Zeichnungen zweier zusammengewachsener Köpfe, die durch ein Schnürkorsett während des Wachstums an der Nahtstelle eingeengt werden sollten.
    »Unsere Siamesen?« Sie legte die Zeichnungen so schnell auf den Tisch zurück, als seien sie heiß. »Du willst dich doch wohl nicht an eine Operation wagen, Bernd?!«
    Oberarzt Dr. Julius warf das Nylonkorsett, das er in der Hand hielt, zu den Zeichnungen auf den Tisch. Er lehnte sich zurück und breitete die Arme aus.
    »Der Chef hatte die Idee –«
    »Der Chef! Dann soll er's auch machen!«
    »Der Chirurg bin ich, mein Kind.« Dr. Julius umfaßte die Beine Renates und schloß einen Augenblick wie in tiefer Übermüdung die Augen. Er legte die Stirn auf ihre Knie und sah dann nach einigen Sekunden wieder auf. »Es ist nicht der erste und wird auch nicht der letzte Versuch sein, siamesische Zwillinge zu trennen.«
    »Und wie liefen diese Versuche aus?«
    »Bisher schlecht. Ein Kind starb.«
    »Und trotzdem willst du es versuchen?«
    »Sollen die Kinder an den Köpfen zusammengewachsen bleiben? Das ist doch unmöglich!« Dr. Julius sprang auf und zog Renate mit in eine Ecke des langen Raumes. Dort hing einer der Lichtkästen, vor deren Mattglasscheiben man die Röntgenbilder betrachtet. Er knipste die Beleuchtung an. Vier Röntgenaufnahmen waren eingespannt. Die Köpfe der Zwillinge.
    »Sieh dir das an. Jeder Kopf ist voll ausgebildet. Jeder hat sein eigenes Hirn, seine eigenen Funktionen, ist in sich abgeschlossen. Nur eine kleine Brücke ist vorhanden, wo sie zusammenstoßen.«
    »Aber auf die kommt es an, Bernd.«
    Renate Vosshardt starrte auf die vier Fotos. Was Julius noch nicht aussprach, sah sie ganz deutlich. Sie tippte mit dem Zeigefinger auf eine undeutliche, in der Aufnahme verschwommene Stelle.
    »Und der hintere Ast? Wenn nun die Aorta cerebri posterior gemeinsam ist? Wenn hier keine Trennung in zwei getrennte Blutkreisläufe vorhanden ist?«
    »Um das festzustellen, will Karchow in etwa drei Monaten eine eingehende Untersuchung vornehmen. Bis dahin muß ich soweit sein, die technischen Vorbedingungen für eine Trennung vorlegen zu können.«
    Renate wandte sich vom Leuchtkasten ab und ging zum Tisch zurück. Sie beugte sich wieder über die Zeichnungen. Julius hatte in verschiedenen Wachstumsphasen die Wirkungen des Einschnürkorsetts dargestellt. Danach konnten die Zwillinge bei normalem Wachstum frühestens nach dem ersten Jahr, wenn nicht erst im zweiten Jahr getrennt werden.
    »So lange wird Karchow nicht warten wollen«, sagte sie, als Dr. Julius wieder hinter ihr stand. »Zwei Jahre. Der Chef ist wie ein Jagdhund, der eine Fährte gewittert hat. Den Ärzten der Kinderklinik Bethlehem gelang es zum erstenmal, siamesische Zwillinge zu trennen. Beide Kinder leben und sind gesund … er sieht und hört schon die Schlagzeilen der Weltpresse.«
    »Ich operiere erst dann, wenn ich mir völlig sicher bin, kein Risiko einzugehen«, sagte Oberarzt Dr. Julius fest.
    »Karchow wird sagen: Jeder Chirurg muß mit Risiken arbeiten. Ohne Mut keinen Blinddarm – du kennst ihn doch.«
    »Dann soll er es allein machen.«
    »Der Chirurg der Klinik bist du –« , wiederholte Renate die Worte ihres Bräutigams.
    »Also habe ich es auch zu verantworten.« Julius raffte die Zeichnungen vom Tisch und schob sie zusammen mit dem Nylonmodell in eine große Aktentasche. Dann drehte er sich plötzlich um und sah Renate groß an. »Wann heiraten wir?«
    Renate Vosshardt wurde rot, so sehr sie sich dagegen wehrte.
    »Du hast nie darüber gesprochen, Bernd.«
    »Immer –«
    »Nie so direkt.«
    »Man spricht in der Klinik über uns.«
    »Ich weiß es.«
    »Und es stört dich nicht?«
    »Nein.«
    »Wieso?«
    »Eine Klinik, in der nicht getratscht wird, ist eine kranke Klinik.« Renate Vosshardt lächelte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, machte ein Schnütchen und blinzelte Julius an.

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