Kinderstation
»Die ›Gerätekammer‹ ist da ein guter Ort. Sie erinnert ein wenig an die Folter –« Er kam näher, die Hände in den Taschen seines weißen Kittels. »Die heutige Jugend hat eine eigene Romantik in Liebesdingen, was? Der Dr. Sandru bevorzugt den Lokus als Chambre séparé, Sie, lieber Julius, umgeben sich mit ausrangierten Schwitzkästen. Chancun a sont goût!«
Oberarzt Dr. Julius verzichtete auf eine rednerische Gegenwehr, sie wäre umsonst gewesen. Gegen Karchows Sarkasmus war nicht aufzukommen. Einmal hatte es jemand geschafft. Ein junger Stationsarzt, ein Berliner. Er wurde als Oberarzt weggelobt, weil Karchow der Ansicht war, zwei Typen wie er seien für eine Klinik nicht tragbar. Es sei denn, es wäre eine psychiatrische Anstalt.
»Was macht unsere Siamesentrennung?« fragte Karchow, plötzlich völlig ernst und korrekt! Das war seine gefürchtete Art … während die anderen noch lachten und den Humor ausbauten, war er schon wieder nüchtern und der ›Chef‹.
»In zwei Jahren, Herr Professor –«, begann Dr. Julius. Er schwieg, als er die Augen Karchows sah. Sie starrten ihn an, als habe Dr. Julius vernehmbare Darmstörungen.
»Ist da nicht ein Rechenfehler unterlaufen?« fragte Karchow vorsichtig.
»Nein! Wir müssen abwarten, bis die natürliche Kopfentwicklung es uns möglich macht, die Einschnürung so dicht zu schließen, daß nur noch die Durchtrennung einer kleinen Brücke übrigbleibt.«
»Hm.« Professor Karchow sah an Dr. Julius vorbei auf einen alten Ätheranästhesieapparat. »Und wenn wir nun eine größere Brücke durchbrennen?«
»Dann ist der Mortalitätsfaktor wesentlich größer.«
Und hier kam das, was Renate und Dr. Julius erwartet hatten. Karchow winkte ab. »Als man den ersten Blinddarm rausrupfte, war das eine Weltsensation. Heute macht das jeder Volontärarzt. Ich bin kein Chirurg, bester Julius, insofern muß ich mich ihrem Urteil beugen, aber ganz so dumm bin ich auch nicht, um zu erkennen, daß man die Sache früher machen kann –«
»Sie meinen – aktueller –«
»So kann man's auch nennen.« Karchow sah seinen Oberarzt staunend an. »Mensch, Julius? Sie werden ja witzig! Wenn das der Einfluß unserer kleinen Vosshardt ist … gratuliere, Frau Kollegin –«
Er drehte sich um und ging hinaus. Renate hakte sich bei Dr. Julius ein und stieß ihn an.
»Was nun? Was willst du tun?«
»Zwei Jahre warten –«, sagte Dr. Julius fest. »Und vorher heiraten, von wegen der anderen Männer –«
Ein paar Tage später kam es zu einer Aussprache zwischen der kleinen Krankenschwester Karin Degen und dem indischen Gastarzt Dr. Sandru Petschawar. Da Sandru einen anstrengenden Dienst bei den Vierlingen machte und Karin Degen auf der Isolierstation arbeitete, sahen sie sich in der letzten Zeit selten. Nie hatten sie Zeit gefunden, sich länger zu sprechen; auch schien es, als wolle Dr. Petschawar nach den Attacken Karchows sein Verhältnis zu Karin etwas unauffälliger gestalten.
Es war reiner Zufall, daß beide zur gleichen Zeit dienstfrei hatten und sich auf der Straße trafen.
»Wohin gehen wir Sandru?« fragte Karin Degen. Gegen ihre sonstige Art war sie ernst und verschlossen. Sandru hob die Schultern und lächelte sein verführerisches Lächeln.
»Nix weiß, Liebling. Bestimme du.«
»In ein Café?«
»Oder zu dir –« Er griff in die Tasche seines Wettermantels und hob ein Schlüsselbund hoch. »Ich hab' noch Schlüssel von Wohnung.«
»Gut gehen wir.«
Der Weg war kurz, nur drei Häuserblocks weiter, und sie gingen schweigend. In der kleinen Wohnung Karins setzte sich Sandru in einen Sessel, knipste das Radio an und suchte zärtliche Musik. Karin räumte das Kaffeegeschirr vom Morgen in die winzige Küche, kämmte sich vor dem Dielenspiegel und blieb dann an der Tür des Wohnzimmers stehen. Lange sah sie auf Dr. Petschawar. Er saß nach vorn gebeugt und wiegte den Oberkörper im Takt der Musik, die aus dem Radio drang.
Einen Augenblick verschwamm das Bild vor Karins Augen … sie sah statt dessen eine halbnackte Gestalt auf der lehmigen, heißen, ausgetrockneten Erde sitzen, mit untergeschlagenen Beinen, eine einsame Flöte klagte, und der braune, schwitzende Oberkörper bewegte sich im Takt der Töne hin und her, wie der Leib der Schlange.
Karin Degen schloß die Augen, das Bild löste sich auf … vor dem Radio saß wieder Sandru, elegant gekleidet, die braunen Hände mit den hellen Fingernägeln gefaltet.
Aber irgendwie war eine Kluft zwischen ihm
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