Kinderstation
Säuglinge.« Die junge Schwester lächelte nachsichtig. Man erlebt oft wunderliche Dinge hinter den Glasscheiben. Väter, die sich wie Irre gebärden, Tanten, die kindisch werden und gackgackgack machen, Onkel, die mit angezogenem Kinn ihre Neffen oder Nichten mustern und sich ausrechnen, was die übernommene Patenschaft noch alles bis zur Volljährigkeit dieses schreienden Bündels da hinter dem Fenster kostet.
»Sie sind eine Verwandte?« fragte die junge Schwester gütig.
»Nein – Ich bin nur gekommen weil –« Julia rang nach Worten und Kraft. Dann straffte sie sich und sah der Schwester in die forschenden Augen. »In der Zeitung stand etwas von einem Findelkind. Wir … das heißt ich … ich würde es vielleicht adoptieren … Aber sehen möchte ich es gerne vorher –«
»Einen Augenblick.« Die junge Schwester legte das Mikrofon auf einen Tisch und verschwand seitlich durch die Tür.
Julia Bergmann trat von der großen Scheibe zurück. Andere drängten heran. Schreiende und lachende Menschlein wurden hochgehalten, Finger klapperten, sinnlose Worte wie »Wo ist denn mein süßes Männilein?« oder »eieieiei … hier bin ich! Hier. Tante Julchen! Guckguck!« prallten gegen die Fenster. Geduldig, lächelnd, trainiert von Prof. Karchow und Oberarzt Dr. Julius, immer, auch in den dümmsten Situationen, freundlich und zurückhaltend zu sein, hoben die Säuglingspflegerinnen die Kinder hoch und zeigten sie den schwatzenden Verwandten.
Drei oder vier Besucher wurden in Nebenzimmer gebeten. Isolierfälle. Oder schwere Erkrankungen, die man nicht zeigen wollte. Diese Verwandten, meist die Eltern, kamen nicht freudig zurück auf den großen Flur. Meistens hatten die Frauen rotgeränderte Augen, und um die Mundwinkel der Väter zuckte es.
Julia lehnte sich gegen die Wand und wartete. Jetzt wird man mich abführen, dachte sie, und sie hatte plötzlich gar keine Angst davor. Es schien ihr wie eine Erlösung zu sein … Ja, ich bin die Mutter, würde sie sagen, wenn man sie direkt danach fragte. Ich habe sie ausgesetzt, aus Angst vor dem Vater. Aber ich habe nie geglaubt, daß es so schwer sein kann, sich von einem Kind zu trennen. Ich will es wiederhaben … hören Sie, ich will es wiederhaben –
Vor ihr wuchs ein weißer Kittel auf. Dr. Wollenreiter räusperte sich, als er sah, wie geistesabwesend die merkwürdige Besucherin war. Julia fuhr zusammen und starrte den Arzt ängstlich an.
»Wollenreiter –«
»Bergmann.« Julia nannte ihren richtigen Namen, sie überlegte gar nicht dabei.
»Sie wollten Maria Ignotus sehen?«
»Wen bitte?« Julias Herzschlag setzte aus. Maria Ignotus. Das muß ein Irrtum sein … das ist sicher eine Verwechslung.
»Unser Findelkind.« Dr. Wollenreiters Gesicht war ernst. »Es heißt jetzt so, weil wir den richtigen Namen nicht wissen.«
»Maria –«, sagte Julia verträumt. Maria Ignotus. Welch ein schöner Name.
»Ja. Schwester Marion sagte mir, Sie seien gekommen, um das Kind eventuell zu adoptieren?« Dr. Wollenreiter überflog mit geübtem Blick die zarte Gestalt Julia Bergmanns.
»Ich glaube, Ihnen schon jetzt sagen zu können, daß die zuständigen Behörden nicht zustimmen werden, denn in Ihrer Jugend …«
»Mein Vater würde es adoptieren.«
»Wie alt ist Ihr Herr Vater?«
»Ende vierzig.«
»Das ist wieder zu alt.« Dr. Wollenreiter räusperte sich. »Es werden Ehepaare in den dreißiger Jahren bevorzugt, damit das Kind lange ein gesichertes Elternhaus hat. Sie verstehen – der Vater vielleicht zweiunddreißig –« Er nannte diese Zahl nicht beliebig. Er war selbst zweiunddreißig Jahre alt.
»Ach, so ist das.« Julia Bergmann versuchte ein entschuldigendes Lächeln. »Ich wußte das nicht. Ich las es in der Zeitung, und da hatte ich sofort die Idee … und wollte mir das Kind bloß vorher einmal ansehen –.«
»Verständlich.« Dr. Wollenreiter lächelte zurück. Abgefangen, dachte er. Als wenn ich Maria Ignotus so kampflos hergeben würde. Der richtige Vater für sie ist ja vorhanden, es ist eigentlich alles da, was nötig ist: ein gesichertes Einkommen, ein gutes Elternhaus, Bildung und Herzenswärme … nur die dazugehörende Mutter fehlt noch, und um diese Lücke wollte sich Wollenreiter von jetzt an intensiv bemühen. Er hatte da schon einige junge Damen in Auswahl, die aber alle nicht ahnten, daß sie mit einer Hochzeit gleichzeitig vollendete Mutter wurden.
»Außerdem könnten Sie das Kind nicht sehen, Frau Bergmann –«, fügte er hinzu.
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