Kinderstation
lebt es … wie geht es ihm … ist es gesund?«
»Wer spricht denn da?« rief Schwester Angela. Durch ihr Herz fuhr ein glühendheißer Stich.
»Hier spricht die Mutter –«, sagte Julia. Ihr Körper fiel gegen Höllerer, der sie mit beiden Armen umfing und aufrecht hielt.
»Dem Kind geht es gut!« sagte Schwester Angela eisig. »Und wenn Sie wirklich die Mutter sind, so will ich Ihnen sagen –«
Der Hörer fiel aus Julias Hand, die Stimme Schwester Angelas sprach ins Leere.
»Es lebt …«, stammelte Julia und sah Franz groß an. »Es lebt … unser Kind lebt –«
Dann wurde sie ohnmächtig. Höllerer hatte genug zu tun, Julias schlaffen Körper gegen die Wand zu drücken, den Hörer an die Gabel zu hängen und dann in der engen Zelle zu warten, bis die Besinnung wiederkam. Er küßte Julia, er massierte ihre Brust, er gab ihr leichte Ohrfeigen, er massierte ihre Schläfen, bis sie die Augen wieder aufschlug, er spuckte sich, in Ermangelung von Wasser, in die Hand und rieb ihr damit die Stirn ab.
Langsam kam Leben in den Körper Julias. Die Kraft kehrte zurück, die Muskeln gehorchten wieder, das Blut pulsierte wieder bis zum Gehirn.
»Es lebt –«, war das erste Wort, das Julia wieder sprach. »O Gott, Franz … ich bin glücklich …«
Und dann weinte sie, und Franz Höllerer spürte auch bei sich, wie die Tränen aus den Augen quollen.
Es lebt! Unser Kind lebt!
Eng umschlungen standen sie in der Telefonzelle und weinten. Und sie waren glücklich wie noch nie –
Am Sonntag, zur allgemeinen Besuchszeit, betrat Julia Bergmann die Kinderklinik ›Bethlehem‹. In den Strom der Mütter und Väter, Onkel und Tanten, Großmütter und Opas, die sonntags zu den Kinderstationen strebten, fiel sie nicht auf. Sie war eine von hunderten Besuchern, die am Glaskasten der Pfortenschwester fragte, wo die Säuglingsstation I sei.
»Zweiter Stock!« sagte die Pfortenschwester.
Der nächste wartete schon. Isolierabteilung? Bitte bei Dr. Hatzenberg melden. Isolierstationsbesuch kann nur mit ärztlicher Erlaubnis stattfinden –
Julia Bergmann sah die breite Treppe hinauf. Nebenan brummten zwei Fahrstühle hinab und hinauf und brachten Mütter, Väter, Omas und Opas zu den Stationen. Das Haus der Stille war einmal in der Woche überflutet wie von Termiten. Es war der Tag, an dem Prof. Karchow zu Hause blieb, auf die Jagd ging oder seine Briefmarkensammlung sortierte. Unter den Besuchern war auch Philipp Lehmmacher. Ihn nahm Dr. Heimbach in Empfang und führte ihn in das Sonderzimmer.
Ich gehe zu Fuß, dachte Julia. Zwei Treppen hinauf … da habe ich Zeit, noch einmal alles durchzudenken, was ich sagen werde.
Langsam ging sie die breite Treppe hinauf. Es war ihr, als stiege sie in den Himmel.
Ich werde mein Kind sehen … ich werde sehen, wie es atmet, wie es schreit, wie es sich bewegt … vielleicht kann es schon das Händchen heben. In einem weißen Bettchen wird es liegen, und es wird satt und zufrieden sein.
Zweiter Stock. Säuglingsstation I. Eine Woge von Vätern und Omas, Müttern und Großvätern. Zwei riesige Glasfenster in den Wänden, dahinter Bettchen an Bettchen und zwischen ihnen Schwestern, die die Kinder hochhoben und den Verwandten zeigten. Es war eine Anordnung Prof. Karchows: Kein Außenstehender betritt die Säuglingszimmer! Nur durch die Scheibe können sie die Kinder sehen, sie, die Bazillenträger! In Amerika hatte Karchow dieses Sicherheitssystem gesehen und sofort bei sich eingeführt. In vier Jahren waren die Infektionen bei den Säuglingen um ein Drittel zurückgegangen. Ein voller Erfolg, über den Karchow in der Medizinischen Schrift einen Artikel verfaßte, der ihm den anderen Spitznamen: ›Der gläserne Hans‹, eintrug.
Mit steifen Schritten ging Julia zu den riesigen Fenstern. Ihre Beine zitterten, jeder Schritt war eine Qual, war wie ein Gang über einen glühenden Boden.
Dann stand sie vor dem Fenster und starrte auf die Bettchen. Eine Schwester kam auf der Zimmerseite an die Scheibe und sprach zu ihr durch ein Mikrofon.
»Guten Tag. Welches Kind möchten Sie sehen?«
Verwirrt strich sich Julia über die Augen. Welches Kind, ja, welches Kind denn? Mein Gott, was soll ich sagen?
»Der Name bitte –«, sagte die Schwester geduldig.
»Ich … ich weiß nicht …« Julia Bergmann hob bedauernd und um Verständnis bettelnd die schmalen Schultern. Über ihr Gesicht zuckte es. »Ich kenne es nicht … ich … ich bin nur gekommen –«
»Wir haben hier neunundsiebzig
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