Kinderstation
»Findest du nicht, daß wir eigentlich ein äußerst langweiliges, biederbürgerliches Liebespaar sind? Alle wissen, daß wir uns lieben und heißen es gut, wir sprechen über Hochzeit wie über einen Knochenbruch, wir dürfen uns küssen, ohne heimlich zu tun, wir sind so völlig normal, als seien wir schon zwanzig Jahre lang verheiratet …«
Dr. Julius wischte sich verwirrt über die Augen. Er beugte sich vor und küßte Renate schnell auf die gespitzten Lippen.
»Ja, aber das ist doch gut so«, sagte er.
»Ich weiß nicht, Bernd.« Renate Vosshardt setzte sich auf den Tisch und ließ die schönen, schlanken Beine baumeln. »Irgendwie kommt mir unsere Liebe zu steril vor. Kuß – Tupfer, Umarmung – Kompresse, eine Liebesnacht – abbinden.«
»Renate!« rief Julis betroffen.
»Wir sind schon alte Ehekrüppel, ohne daß wir das ›güldene Ringlein am Finger‹ tragen.« Renate schüttelte die gelockten Haare aus der Stirn. »Wir sind schon abgeklärt, ohne Mumien zu sein. Wir sehen uns an, wir küssen uns, und wenn wir uns wieder trennen, gehen wir zum Leuchtkasten und betrachten uns Lungenflügel oder Magenfüllungen. Irgendwie ist da etwas schief, Bernd.«
Oberarzt Dr. Julius sah seine Braut verwirrt an. Bis heute hatte er den Zustand seiner Liebe als beglückend betrachtet. Er liebte und wurde geliebt, und die Belastung der Erinnerung an den Tod seiner ersten Frau, an dieses schreckliche Sterben durch einen Hirntumor, der langsam alle Körperfunktionen abdrückte, bis nur noch ein atmender Körper im Bett lag, ein pulsendes Stück Fleisch, aber sonst völlig funktionsunfähig, diese grausamen Monate wurden langsam durch die Nähe Renates verwischt. Diese Zeit hatte ihn ernster gemacht, als er in Wahrheit war, ja, ohne es zuzugeben, hatte er im tiefsten Inneren eine Art Angst vor einer neuen Ehe. Er hatte seine erste Frau sehr geliebt, sie war das gewesen, was man lapidar eine Schönheit nennt, er war, von Natur aus ein wenig schwerblütig, überwältigt von dem Glück, das ihn getroffen hatte. Der Sturz aus diesem Himmel war um so grausamer und wirkte jetzt nach in den Gedanken: Was hat das Schicksal mit Renate vor? Auch Marion war gesund, als ich sie geheiratet hatte …
»Es ist doch etwas Schönes, wenn wir in einem so völligen Gleichklang leben –«, sagte er leise. Renate nickte.
»Natürlich. Aber sag mal – bist du eigentlich eifersüchtig?«
»Und wie.«
»Auf – na, auf keinen.« Dr. Julius lachte. »Du liebst ja nur mich.«
»Glaubst du –«
»Was heißt das … Renate?« Dr. Julius ließ die Tasche auf den Boden fallen, die er gerade aufgenommen hatte. Renate tänzelte um den Tisch herum und wiegte sich in den Hüften. »Angenommen, mir gefallen andere Männer auch gut?« rief sie.
»Unmöglich!«
»Wieso unmöglich? Du bist nicht der Nabel der Welt.«
Dr. Julius starrte sie völlig entgeistert an. »Renate! Ich bitte dich! Es ist doch völlig ausgeschlossen, daß –«
»– daß ich andere Männer nett finde? Wieso denn? Zum Beispiel unseren schicken Inder Sandru –«
»Aber das ist doch Blödsinn.« Dr. Julius versuchte, Renates Arm zu ergreifen, aber sie wich ihm aus und lief um den Tisch herum. Einen Augenblick zögerte er, dann lief er ihr nach, und wie zwei sich jagende Kinder rannte er hinter ihr her, immer im Kreis, und Renate lachte, warf den Kopf in den Nacken und entwischte immer wieder seinen zugreifenden Händen. »Bleib stehen, du Aas!« keuchte er. »Ich bekomme dich! Ich war Klassenmeister im Laufen!«
»Vor zwanzig Jahren!« Renate bückte sich und entschlüpfte ihm wieder. »Und da habe ich einen Mann kennengelernt, einen Architekten, ein schicker Mann, sag' ich dir! Groß, schwarzhaarig, wie ein Römer sieht er aus –«
»O du Hexe!« Dr. Julius stürzte vorwärts. Diesmal überrumpelte er Renate, riß sie an sich und verhinderte jede Gegenwehr, indem er sie mit seinen Armen wie in einem Schraubstock festhielt und küßte.
»O Pardon!« sagte jemand von der Tür her. Julius und Renate fuhren auseinander. Professor Karchow war in die ›Bastelstube‹ getreten und wippte nun auf den Fußspitzen genießerisch auf und ab.
»Ich suchte Sie, Julius. Meine Sekretärin sagte mir, Sie seien hier, um in Ruhe zu forschen. Man sieht's. Sie beschäftigen sich mit der Dämpfung hormonaler Aufwallungen –«
»Herr Professor.« Dr. Vosshardt senkte den Kopf. »Wir haben soeben beschlossen, bald zu heiraten.«
»Brav, meine Lieben.« Karchow lächelte grausam.
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