Kindersucher - Kriminalroman
erstklassige Spürhund hatte die Jagd mit beeindruckendem Geschick, Zähigkeit und Energie geleitet. Als die Mörder schließlich in die Enge getrieben worden waren, bewunderte Kraus diesen Mann aufrichtig, und seitdem hielten der Doktor und er Verbindung.
Vielleicht hatte Weiß auch ein natürliches Interesse daran, Kraus zu ermutigen, ein Interesse, das er möglicherweise nicht an – zum Beispiel – Hans Freksa hatte, der über ganze Legionen von Vorbildern verfügte. Aber es war nicht Weiß, der den Mörder überführte, der einen Metzger, einen Bäcker und einen Briefträger ermordet hatte, weil er geglaubt hatte, sie alle hätten eine Affäre mit seiner Frau. Und ebenso wenig hatte Weiß den Fall des verschwundenen Apothekers gelöst, der die Kriminalbeamten in Wilmersdorf jahrelang vor ein Rätsel gestellt hatte. Vielleicht konnte sich Freksa nicht damit abfinden, dass Kraus es in nur fünf Jahren zum Kriminalsekretär geschaffthatte, während Freksa doppelt so lange gebraucht hatte. Viele seiner Kollegen glaubten, dass höhere Instanzen Kraus’ Karriere »auf die Sprünge halfen«. Aber keine höhere Instanz hatte den Menschenhändlerring vom Prenzlauer Berg geknackt. Oder die Mietskasernenmorde von Neukölln aufgeklärt.
»Kraus«, wiederholte der Kommissar eindringlich. »Sie haben ja nicht einmal mitbekommen, was Ihr neuer Fall ist. Es ist eine sehr wichtige Aufgabe. Eine äußerst schwere Last. Und von weit größerer Bedeutung für Millionen von Berlinern als alles, was sich in diesem Jutesack befindet, das versichere ich Ihnen.«
Kraus riss sich zusammen.
»Sie haben zweifellos von der vergifteten Wurst gelesen, die solches Entsetzen in dieser Stadt verbreitet.«
Kraus hoffte, dass dies ein Scherz war. Denn all das lief auf einen derben Spaß auf seine Kosten hinaus. Doch nichts in Horthstalers Miene deutete auf einen Witz hin.
»Ja, natürlich. Es stand in der Morgenzeitung.« Kraus konnte sich an Vickis Reaktion erinnern. »Aber es war, glaube ich, nicht von Todesopfern die Rede.«
»Falsch gedacht, Kraus. Bis zum jetzigen Zeitpunkt sind es bereits drei.«
»Meine Güte, Kommissar.« Müller parodierte den übelsten jüdischen Akzent, schlug sich die Hände auf die Wangen und schüttelte den Kopf. »Dieses Fleisch ist nicht koscher. Das ist Schweinewurst!«
Diesmal wollte das Gelächter kein Ende nehmen.
Kraus kochte vor Wut, als er durch die hallenden Gänge des Präsidiums marschierte. Obwohl es bereits nach dreizehn Uhr war und das Gebäude sich zum Wochenende geleert hatte, drehte er sich an den Aufzügen um und überzeugte sich davon, dass ihn niemand beobachtete. Oben, in den Büros der Verwaltung,schien ein Gewicht von tausend Pfund von seiner Brust zu fallen, als er sah, dass die Tür von Dr. Weiß’ Büro noch offen stand. Und als die dunklen Augen hinter der Metallbrille ihren Blick hoben, musste er sich zusammenreißen, um sich nicht auf den Schreibtisch zu werfen und zu heulen: »Sie haben mir meinen Fall weggenommen!«
In den zwei Jahren, die er jetzt hier im Präsidium arbeitete, war er mehr als einmal in das Büro des Doktors gegangen, das musste er zugeben ... aber nur, um sich moralische Unterstützung zu holen. Es war nicht leicht, ständig von Kollegen und Vorgesetzten diffamiert zu werden. Aber kein einziges Mal hatte er den Polizeivizepräsidenten gebeten, einzugreifen. Bis jetzt.
»Freksa wollte den Fall, weil er Schlagzeilen macht und er scharf auf Publicity ist. Horthstaler hat ihn mir aus den Händen gerissen, weil es seinem Instinkt entspricht, mich einfach beiseitezuschieben. Aber ich war derjenige, der zum Tatort gerufen wurde, ich habe den Bericht eingereicht. Also sollte dieser Knochensack eigentlich mein Fall sein.« Kraus schloss seinen Beweisantrag vor seinem Vorgesetzten ab. »Könnte man da nicht etwas unternehmen?«
Dr. Weiß kniff die Augen zusammen, als er seinen Füllfederhalter zur Seite legte.
»Willi, wir kennen uns jetzt wie lange, acht, neun Jahre?« Er beugte seinen schlanken, kräftigen Oberkörper vor und faltete seine Finger auf dem Schreibtisch. »Mir ist klar, dass Sie auf keinen Fall Ihre Bekanntschaft mit mir benutzen würden, um Ihre Karriere voranzubringen. Andere dagegen sind sich diesbezüglich vielleicht nicht so sicher. Überlegen Sie die Konsequenzen für Ihren Ruf, falls ...«
»Mein Ruf?« Kraus fiel niemandem gern ins Wort, aber es war vollkommen sinnlos, darüber auch nur zu diskutieren. »Mein Ruf kann nicht mehr viel
Weitere Kostenlose Bücher