Kindersucher - Kriminalroman
finsterem Blick die sauberen weißen Überreste fixierte. »Es sind die Knochen von Jungen. Insgesamt fünf Jungen im Alter zwischen neun bis vierzehn. Es ist unmöglich, den genauen Todeszeitpunkt festzulegen. Aber«, er streifte sich Baumwollhandschuhe über, »es gibt ein höchst aufschlussreiches Detail.« Vorsichtig öffnete er die ruinierte Bibel und deutete mit seinem Pfeifenstiel auf das immer noch entzifferbare Veröffentlichungsdatum. Berlin. 1929. »Also muss diese ›Bestattung‹«, er zuckte mit den Schultern, »wenn man das so bezeichnen kann, innerhalb der letzten neun Monate stattgefunden haben. Der Sack wurde von der Firma Schnitzler und Sohn hergestellt. Die Fasern enthalten immer noch Reste von Tierfutter. Wahrscheinlich waren die Knochen für Rinder bestimmt, möglicherweise auch für Ziegen oder Schweine, das kann ich nicht sagen. Ich bin kein Bauer. Es sieht jedenfalls so aus.« Hoffnung nahm eine Pinzette und hob ein Korn hoch, damit Kraus es inspizieren konnte. Kraus war ebenfalls kein Bauer.
»Und womit genau waren die Knochen nun zusammengebunden?«
»Es sind Sehnen, schon richtig.« Hoffnung zog einen ledernen Beutel aus seinem Laborkittel. »Aber sie stammen ... nicht von Tieren. Sondern es sind, vermute ich jedenfalls«, er seufzte, schob die Pfeife in den Beutel und füllte den Kopf bedächtig mit Tabak, »Sehnen, die einmal an diesen Knochen befestigt waren. Sie wurden getrocknet und mit der Hand gesponnen,wie ein Strick. Wer auch immer das gemacht hat, ist ein ausgezeichneter Handwerker.«
Kraus überkam ein Frösteln. Menschliche Sehnen zu Fäden gesponnen?
»Das ist noch nicht alles.« Hoffnung klopfte eifrig seine Taschen ab. »Diese Knochen wurden, ein besseres Wort fällt mir nicht ein«, Erleichterung zuckte über sein Gesicht, als er seine Streichhölzer fand, »gekocht.«
Kraus schnürte sich die Kehle zusammen. Wie damals, während des Krieges, wenn die Gasgranaten fielen.
»Ich konnte nicht auch nur ein mikroskopisch kleines Stückchen Gewebe an ihnen finden.« Die Flamme des Streichholzes zitterte, als der Doktor seine Pfeife entzündete. »Und es gibt nur eine Möglichkeit, Knochen so sauber zu bekommen, Herr Kriminalsekretär.« Hoffnungs Augen wurden dunkler, als er an der Pfeife paffte. »Man muss sie kochen.« Sein Gesicht verschwand hinter einer Rauchwolke. »Und zwar etliche Stunden.«
Die Pfahlramme hämmerte Balken in den schlammigen Berliner Untergrund. Kraus hatte das Gefühl, sie würden ihm in den Schädel gerammt. Von seinem Schreibtisch aus sah er die offene Grube auf der anderen Straßenseite, wo die Haltestelle der Untergrundbahn allmählich Gestalt annahm. Irgendwann würden alle Schichten des Verkehrs auf dem Alexanderplatz so raffiniert organisiert sein, dass keine einzige Linie die andere auf derselben Ebene kreuzte. Wie komplex war wohl der Verstand einer Person, die das Fleisch von Kinderknochen kochte?
Er kippte mit dem Stuhl nach hinten, eine nicht ungefährliche Kindheitsmarotte.
Man hatte nicht nur das Fleisch gekocht, sondern die Sehnen getrocknet und sie mit der Hand zu »Fäden« gesponnen.Und mit diesen Fäden hatte man die Knochen zu einem Arrangement gebunden. Diese Arrangements wurden dann in einen Jutesack gestopft ... zusammen mit einer Bibel. Was bewegte jemanden zu einem solchen Verhalten? Was für ein Mensch dachte sich so etwas aus? Konnte man so jemanden überhaupt einen Menschen nennen?
Er richtete sich auf und legte seine Hand auf den schwarzen Telefonhörer. Er hatte gerade mit Schnitzler & Sohn telefoniert. Die Spur war kalt. Man hatte ihm gesagt, dass man Futter für alle möglichen Tiere in ihre Säcke füllen könnte. Und sie hatten Kunden in ganz Norddeutschland.
Er schrak zusammen, als seine Gegensprechanlage summte. »Vergessen Sie das Mittagessen nicht, Herr Kriminalsekretär«, erinnerte ihn Frau Garber – Ruta. »Um Punkt zwölf im Untergeschoss.«
»Danke, Ruta.«
Er zerbrach eine Heftklammer.
Kriminalkommissar Horthstaler liebte es, die Woche mit einem Treffen der Abteilung in der Cafeteria im Untergeschoss abzuschließen, ein Stockwerk über dem Labyrinth von Arrestzellen, dem sogenannten Verlies. Kraus wünschte sich, sie würden sich wie alle anderen Abteilungen in einem ganz normalen Konferenzzimmer treffen. Auf das Mittagessen konnte er gut verzichten. Er vermied es, Schweinefleisch zu essen, nicht aus irgendwelchen religiösen Gründen und nicht einmal, wie Vicki andeutete, wegen des »Zwangs des
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