Kindersucher - Kriminalroman
auf Kraus gerichtet blieb. »Ich vergaß. Elterninstinkte.« Er legte seine Beine auf einen Tisch. »Ein wahrhaft unbedingter Reflex. Manchmal spanne ich als Wissenschaftler den Wagen vor das Pferd. Aber immer mit der Ruhe. Ihrem Sohn und seinem fetten kleinen Freund geht es gut. Es hätte Ihnen klar sein müssen, dass ich weiß, wo Sie wohnen, Kraus. Erinnern Sie sich daran, dass ich Sie zu Hause abgesetzt habe? Aber ich kann Sie beruhigen ... Ich habe Ihren kleinen Lieblingen nur die beste Pflege angedeihen lassen. Das mache ich bei allen. Sie sind vollkommen ruhig und dämmern in einem Zustand des Scheintods vor sich hin, nachdem ich sie mit sorgfältig dosierten Schlafmitteln versorgt habe. Sie werden zudem intravenös hervorragend ernährt. Wenn Sie sie jetzt aufwecken könnten, würden sie sich an nichts mehr von dem erinnern, was nach dieser Begegnung mit dem Eiswagen passiert ist. Falls Sie sie wecken könnten.« Von Hessler lachte plötzlich mit der Lautstärke einer Artilleriesalve.
Kraus suchte verzweifelt nach einem Ausweg.
Von Hessler hörte auf zu lachen. »Glauben Sie nicht, ich würde schlecht sehen, weil ich nur noch ein Auge habe, Inspektor. Ich erkenne diesen Ausdruck auf Ihrem Gesicht sehr deutlich. Und ich kann Ihnen genau sagen, was Sie denken. Sie fragen sich, wie ein so intelligenter, kultivierter Mann wie ich so teuflisch sein kann, Kinder für wissenschaftliche Experimente zu benutzen. Nun, da haben Sie ein ganz wunderschönes Beispiel für einen bedingten Reflex!«
Er lachte erneut schallend. Offenbar war er selbst sein bester Zuhörer.
Ilse tauchte mit einem glänzenden roten Apfel und einem sehr langen, scharfen Messer auf, das funkelte, als sie ein paar Mal damit durch die Luft fuhr, um anzudeuten, welchen Spaß sie damit noch haben würde. Dann setzte sie sich auf einen Tisch, nahm Kraus’ Luger und zielte auf ihn.
»Mir fällt auf, dass Sie schwitzen, Inspektor«, erklärte von Hessler, während er das Messer nahm und anfing, den Apfel zu schälen. »Ein weiterer unbedingter Reflex, der für jemanden in Ihrer unangenehmen Lage zugegebenermaßen ziemlich natürlich ist. Es sei denn natürlich, Sie hätten eine gewisse körperliche Beeinträchtigung. Wie es zum Beispiel bei mir der Fall ist.« Er schälte die Frucht so, dass die Schale sich in einer langen Spirale davon löste, und drehte den Apfel dabei fortwährend herum. »Ich bin zufällig jemand, der nicht schwitzt. Schon gar nicht aus Angst. Oh, gewiss, früher einmal habe ich auch geschwitzt. Aber diese Granate, die mir vor Verdun ein Auge genommen hat, hat auch den Teil meines Gehirns beschädigt, den man gemeinhin Stirnlappen nennt. Deshalb ist dieses Organ jetzt für meine Arbeit von so zentraler Bedeutung. Ich schwitze nicht mehr aus Furcht. Und«, er hatte den Apfel zu Ende geschält, »ich empfinde keinerlei Gewissensbisse.« Er lächelte und zuckte mit den Schultern, als wäre ihm diese Tatsache selbst rätselhaft. »Niemals.«
Er legte den Apfel auf einen Teller.
»Was nicht bedeutet, dass ich ein Monster wäre.« Er wischte sich die Finger mit einer Serviette ab. »Oder geistesgestört. Oder psychotisch, wie Ihr Cousin es vielleicht nennen würde. Im Gegenteil. Weil ich die Beschränkungen dieser sogenannten Empathie und der bürgerlichen Ideale von richtig und falsch nicht kenne, kann ich dort forschen, wo andere es niemals wagen würden. So vermag ich sozusagen, eine Fackel für künftige Generationen zu entzünden. Man wird mir eines Tages danken, das werden Sie schon sehen. Vielleicht sehen Sie es aber auch nicht.«
Erneut ertönte eine Salve dieses bellenden Gelächters.
»Du bist ein richtiger Volksheld, Doktor«, sagte Ilse und liebkoste Kraus’ Luger. Dann tat sie so, als würde sie Kraus das Hirn herausschießen. »Ein erhabener Diener des deutschen Volkes.«
»Ich habe mich aus sehr rationalen Erwägungen heraus für Kinder entschieden.« Von Hessler nahm das Messer wieder in die Hand. »Die menschliche Großhirnrinde, verstehen Sie, ist bereits mit sieben Jahren vollkommen entwickelt. Ihre Zellstrukturen bleiben noch etwa weitere sieben Jahre formbar, dann jedoch ist sie fixiert und unveränderlich.« Er stach in den Apfel und schnitt das Gehäuse mit einer schnellen, ruckartigen Drehung des Messers heraus. »Die Gehirne, die ich aussuche, sind für das Studium perfekt geeignet.« Er teilte den Rest des Apfels geschickt in Scheiben. »Und ich bevorzuge Jungen, weil sie zäher sind als Mädchen.
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