Kindersucher - Kriminalroman
irgendetwas mit ihren Scheiteln nicht stimmte. Ihnen fehlte die Schädeldecke. Sie war vollkommen entfernt worden, so wie man vielleicht die Schale eines weich gekochten Eis entfernen würde. Der Anblick erinnerte ihn an ein sozialkritisches Gemälde des berühmten George Grosz, auf dem er die Stützen der zeitgenössischen deutschen Gesellschaft mit ähnlich offenen Schädeln karikierte, in denen sich statt Hirnmasse dampfende Scheißhaufen befanden.
Was Kraus jedoch hier sah, war noch viel surrealer.
Und von unvorstellbarer Brutalität.
Außerdem erklärte es, was mit den Kindern auf dem Handkarren geschehen war, die er in Magdas Verlies gesehen hatte; er hatte nie begreifen können, warum ihre Schädel ausgesehen hatten, als wären sie mit einem Dosenöffner geöffnet worden. Jetzt lehnte er sich Halt suchend an die Wand und versuchte, die Welle von Übelkeit zu unterdrücken, die in ihm aufstieg, als er die Lösung des Rätsels so plastisch vor Augen geführt bekam.
Die Schädeldecke dieser Jungen war nicht mit einem Dosenöffner entfernt worden, sondern mit einem Skalpell ... damitman sie als Versuchskaninchen in irgendeinem perversen Experiment benutzen konnte.
Als Kraus die Kinder in den Glaskäfigen entsetzt betrachtete, stellte er fest, dass sie noch am Leben waren; ihre Augen wirkten allerdings etwas glasig, weil sie offenbar unter Drogen standen und sich in einer Art Trance befanden. Aber ihre Brustkörbe hoben und senkten sich, und ab und zu zuckte eines der Kinder mit einem Finger. Drähte führten von Geräten und Apparaturen außerhalb der Käfige durch die gläsernen Wände direkt in ihre Schädel.
Kraus hielt den Atem an.
Kaum vier Schritte von ihm entfernt tauchte eine Gestalt in einem Chirurgenkittel auf. Sie hatte eine Baumwollmaske vor dem Mund, las eifrig verschiedene Anzeigen und Skalen ab und trug Daten auf ein Klemmbrett ein. Plötzlich jedoch schien sie etwas zu wittern. Sie hob den Kopf und durchmaß mit kalten grauen Augen die Dunkelheit. Eine schlanke Hand zog den Mundschutz herunter. Dahinter kamen eine lange Nase und schwammige, gerötete Wangen zum Vorschein. Eine Woge von Adrenalin durchströmte Kraus.
Er umklammerte die Luger fester.
Als die Person Anstalten machte, zu einem Tablett mit chirurgischen Instrumenten zu laufen, auf dem auch etliche lange, scharfe Skalpelle lagen, trat er aus dem Schatten.
»Stehen bleiben, Ilse!«
Das jüngste der Köhler-Geschwister blieb wie angewurzelt stehen. Dann drehte die Frau langsam den Kopf herum, und der Blick der eisigen Augen richtete sich auf Kraus. Sie blinzelte mehrmals, bis sie ihn erkannte. Aus irgendeiner verborgenen Waffenkammer tief in ihrer Psyche kramte sie plötzlich die charmante, weibliche Frau hervor.
»Hallo, Inspektor.« Ihr weiches Lächeln schien selbst die härtesten Aspekte ihres Gesichtes zu mildern. »Sie haben aberziemlich lange gebraucht.« Sie klimperte mit den Wimpern. »Aber am Ende haben Sie mich doch gefunden. Ich gratuliere.«
Sie hatte niemals eine ordentliche Schulausbildung genossen, das wusste Kraus. Aber gäbe es ein Diplom für Überlebensinstinkte, hätte sie summa cum laude abgeschlossen. Er hätte sie damals hinter den feindlichen Linien gut gebrauchen können. Sie war eine ausgesprochen begnadete Mischung aus der Entschlossenheit ihres Bruders und der Heimtücke ihrer Schwester.
Ilse öffnete die Lippen ein wenig und befeuchtete sie mit ihrer Zunge.
»Sie sehen wirklich weit besser aus als Ihr ...«
»Wo ist mein Sohn?«
Er zielte mit der Luger weiterhin auf ihr Herz.
Ihr Mundwinkel zuckte. »Oh.« Sie lächelte immer noch, aber ihr Unterton hatte sich verändert. »Verstehe. Sie meinen, Sie wissen jetzt, wie es sich anfühlt, wenn man einem das Liebste nimmt.«
»Wo ist er?« Kraus legte den Finger auf den Abzug. Er würde diese Hexe mit einer einzigen Kugel erledigen, selbst wenn er anschließend den ganzen Wasserturm auf den Kopf stellen musste, um Erich zu finden. »Ich gebe Ihnen ...«
Ein scharfer Schmerz zuckte durch seine Schulter, dem Bruchteile von Sekunden später ein lauter Knall folgte. Er bekam einen Schlag, sein Arm verkrampfte sich, und die Luger fiel zu Boden.
»Rühren Sie sich nicht von der Stelle!«, befahl eine männliche Stimme.
Kraus hielt sich die Schulter und verwünschte sich gleichzeitig für seine Überheblichkeit. Er hatte Freksa derselben Dummheit bezichtigt, weil der geglaubt hatte, alleine hinter die feindlichen Linien gehen zu können. Und was war
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