Kindersucher
Eisenbahnen, die unter anderem für die industrielle Vormacht Berlins verantwortlich waren. Diese Nahverkehrszüge fuhren über dieselben Gleise, von denen vierhundert Meter entfernt eine Spur zum Viehhof abzweigte. Dieselben Gleise, über die Hunderttausende von Menschen transportiert wurden, brachten auch das Vieh aus ganz Europa hierher, um die Einwohner Berlins zu ernähren. Der Lärm des einfahrenden Zuges hallte von den Gebäuden in der Nähe zurück, und Kraus hörte den Warnruf des Schaffners: »Zurückbleiben!« Leute strömten auf die Straße. Als der Zug den Bahnhof verließ, warf er einen Blick in den Rückspiegel.
Da war er. Der Ochse trieb mit seinen mächtigen Armen zwei schlaksige Jungs vor sich her, die ziemlich erschöpft aussahen, aber gleichzeitig erleichtert darüber, diesem höllischen Markt entkommen zu sein. Sie warfen ein paar leere Kisten in den Lieferwagen und kletterten dann selbst hinten hinein. Der Ochse schlug die Tür zu und stieg dann ins Führerhaus.
Der Mann war wirklich fast so groß wie ein kleiner Stier. Seine Gliedmaßen waren zweimal so dick wie die von Kraus und schienen nur aus Muskeln zu bestehen. Es war verblüffend, dass er überhaupt hinter das Lenkrad passte. Kraus holte tief Luft und wartete, bis der Mann an ihm vorbeigefahren war, bevor er seinen Motor startete. Und wie schaffte er es, die ganze Zeit ohne Nummernschild durchzukommen? In dieser Stadt hielten sie einen ja sogar wegen einer schmutzigen Windschutzscheibe an. Kraus achtete darauf, dass sich stets ein Fahrzeug zwischen ihm und dem Lieferwagen befand, und war froh, dass er keine Verfolgungsjagd machen musste. Der Opel fuhr nicht schneller als achtzig, höchstens neunzig Kilometer pro Stunde. Das genügte, um die Kinder zu Opa zu bringen. Aber es wäre schön, irgendwann einen schnelleren Wagen zu kaufen. Angesichts des dichten Verkehrs war Geschwindigkeit allerdings das Letzte, worüber er sich momentan den Kopf zerbrechen musste.
Kraus kroch über die Thaerstraße, dann bog er in die Eldenaer Straße ein und sah, wie der Ochse schließlich durch das Haupttor auf den Centralviehhof fuhr. Kraus ließ einen leeren Lastwagen zwischen sich und sein Opfer einfädeln und reihte sich hinter ihm ein. Auf den Schotterstraßen drängte sich ein Gewühl von Autos, Lastwagen und Pferdefuhrwerken. Die hübschen Gebäude aus roten und goldgelben Ziegeln glühten in der Nachmittagssonne. Siebenundfünfzig Gebäude auf einhundertzwanzig Morgen Land, hatte Direktor Gruber geprahlt. Elfhundert einzelne Firmen. Fünftausend Leute, die hier ihr tägliches Brot verdienten.
Und mindestens ein Massenmörder.
Kraus achtete weiterhin darauf, immer einen Laster zwischen sich und dem Lieferwagen zu lassen, und folgte dem Ochsen vorbei an einem riesigen Viehmarkt mit gläsernem Dach, den Hallen für Schafe und Schweine, den Freiluftpferchen, die sich über mehrere Morgen ausdehnten, und durch den Tunnel, der auf die Südseite des Komplexes führte. Wenn wir an den Schlachthäusern vorbeifahren, sagte er sich, hat sich meine Geduld vielleicht ein wenig ausgezahlt. Denn dann würde er genau dorthin fahren, wo Riegler und Heilbutt den Ursprung der vergifteten Wurst ausgemacht hatten.
Ein Schlachthaus nach dem anderen zog an ihm vorbei, und aus dem Schornstein eines jeden Gebäudes quoll dichter Qualm. Kraus kurbelte das Fenster hoch, aber das half nichts. Der Gestank von frischem Blut und brennendem Fett drang wie Giftgas in den Innenraum des Wagens. Kraus hätte nicht geglaubt, dass Menschen in einem solchen Gestank arbeiten konnten, hätte er nicht drei Jahre an der Westfront gedient.
Plötzlich hielt der Lastwagen unmittelbar vor ihm an und fuhr keinen Schritt weiter. Kraus knirschte mit den Zähnen. Dieses ganze Gebiet war ein Labyrinth aus kleinen Gässchen, in denen der Ochse im nächsten Moment verschwunden sein konnte. Er hupte, was ihm nur eine wütende Geste des Lastwagenfahrers einbrachte. Dann streckte er seinen Kopf aus dem Fenster und betete, dass er an dem Wagen vorbeikam. Zu seiner Bestürzung sah er jedoch, dass die Straße vor ihm von einer Rinderherde blockiert war. Die Tiere trotteten zu Hunderten auf die Rampen eines Schlachthauses. Er konnte es nicht glauben. Nach all dieser geduldigen Warterei! Er sprang aus dem Wagen, stieg auf das Trittbrett und bemühte sich, den schwarzen Lieferwagen durch den Staub ausfindig zu machen, aber es war sinnlos. Alles, was er sah, war dieses braun-weiße Vieh, das dumpf dem
Weitere Kostenlose Bücher