Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Senator starrte ihn kurz mit einem unergründlichen Blick an – dann brach er in ein Lachen aus, das ihm einige zornige und überraschte Blicke eintrug.
„Dieser Hohlkopf! Und verliebt war er auch noch!“ Devincourt wischte sich mit einem Zipfel seiner Serviette die fettglänzenden Lippen ab und war urplötzlich wieder ernst. „ Die Liebe …“ In seinem Schlemmermund hatte das Wort etwas Obszönes, und wieder spürte Paul Lacaze, wie sich seine Eingeweide verkrampften. „Auch ich bin einmal verliebt gewesen“, sagte der Wal plötzlich. „Lange her. Ich war Student, sie war schön, hinreißend. Kunststudentin in Paris. Sie war begabt. Oh ja. Es waren wohl die schönsten Tage meines Lebens. Ich wollte sie heiraten. Ich träumte von Kindern, einer großen Familie, von ihr an meiner Seite. Jede Menge schwärmerische Backfischträume. Ich, Pierre Devincourt, können Sie sich das vorstellen? Und dann hab ich sie mit einem anderen im Bett erwischt. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Tür abzuschließen. Hatte Ihre Freundin einen anderen?“
„Nein.“
Eine entschiedene Antwort, wie aus der Pistole geschossen. Devincourt warf ihm einen vorsichtigen Blick zu; seine Augen funkelten verschlagen unter seinen schweren Lidern.
„Die Wähler lassen sich viel vormachen, aber alles nicht. #In letzter Zeit hat es ein paar Parteipolitiker gegeben, die sich den Kuchen allzu schnell aufteilen wollten. Sie haben vergessen, dass dazu ein bisschen Theater gehört, dass ein Mindestmaß an Diskretion und Überzeugungskraft doch dazugehört. Man kann dem Volk nur auf den Kopf pinkeln, wenn es die Pisse für Regen hält.“
Wieder wischte sich der Wal den Mund ab.
„Sie werden nicht Parteichef, wenn Sie Leichen im Keller haben, Paul. Nicht mehr. Diese Zeiten sind vorbei. Also sollten Sie zusehen, dass Sie in dieser Geschichte gar nicht erst auftauchen. Ich kümmere mich um den kleinen Commandant. Wir werden ihn im Auge behalten. Aber ich will wissen, ob Sie für den Mordabend ein Alibi haben.“
Lacaze sträubte sich.
„Mann, was glauben Sie? Dass ich sie umgebracht habe?“
Er sah die Augen des Fettwanstes funkeln. Der Wal beugte sich über den Tisch, und seine Bassstimme grollte zwischen den Gläsern wie ein fernes Gewitter.
„Jetzt hör mir mal gut zu, du kleiner Scheißer! Heb dir dein verschrockenes Altjungferngetue fürs Gericht auf! Ich will wissen, was du an dem Abend gemacht hast: Ob du sie gefickt hast, ob du ihre Muschi geleckt hast, ob du mit Freunden gepichelt hast oder ob du dir aufm Klo eine Linie Kokain gezogen hast, ob jemand bei dir war oder nicht, Leute, die dir ein Alibi geben können, verdammt! Und nerv mich nicht mehr mit diesem scheißunschuldigen Getue!“
Lacaze fühlte sich wie nach einer Ohrfeige. Alles Blut wich aus seinem Gesicht. Er warf einen Blick in die Runde, um sich davon zu überzeugen, dass auch wirklich niemand etwas gehört hatte, dann blickte er dem Senator scharf wie eine Sphinx ins Auge.
„Ich war … ich war bei Suzanne. Wir habeneine DVD angeschaut. Eine italienische Komödie. Seit ihrer … Krebsdiagnose versuche ich so oft wie möglich zu Hause zu sein.“
Der Senator richtete sich auf.
„Das tut mir Leid für Suzanne. Schrecklich, was sie da durchmacht. Ich mag Suzanne sehr.“
Der Wal war plötzlich brutal aufrichtig gewesen. Er vertiefte sich wieder in sein Essen. Das Gespräch war beendet. Lacaze spürte, wie ihn eine Woge von Schuldgefühlen unter sich begrub. Er fragte sich, wie sein Gegenüber reagiert hätte, wenn er ihm die Wahrheit gesagt hätte.
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Zuerst die Geräusche. Allgegenwärtig, durchdringend, störend. Sie bildeten ein dichtes Lärmgewebe, das niemals erstarb, eine erbarmungslose Routine. Stimmen, Türen, Schreie, Eisengitter, Schlösser, Geräusche von Schritten, Schlüsselbunde … Dann der Geruch. Nicht unbedingt unangenehm. Aber typisch. Unverwechselbar. Alle Gefängnisse riechen gleich.
Hier waren die meisten Stimmen weiblich. Frauentrakt, Justizvollzugsanstalt Seysses nahe Toulouse. Das Gefängnis hatte noch drei weitere Gebäude: zwei für Männer und eines für Minderjährige.
Als die Gefängniswärterin die Tür aufschloss, verkrampfte sich Servaz. Er hatte Waffe und Dienstmarke an der Pforte abgegeben, sich ins Besucherverzeichnis eingetragen und die Sicherheitsschleusen und Metalldetektoren passiert. Während er hinter der Wärterin durch die Gänge des Frauentraktes ging, bereitete er sich mental
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