Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
war sie genau heute da.“
„Wer?“, fragte er.
Sie lächelte ihn höhnisch an. Er stand auf.
„Ich muss doch nur den Direktor fragen“, sagte er.
„Schon gut. Kommen Sie wieder. Aber vergessen Sie nicht Ihr Versprechen.“
Er wollte noch jemanden besuchen. Er wusste, dass das streng verboten war. Aber Servaz hatte seine „Kontakte“ im Gefängnis; sein Chef würde von dieser Begegnung nie erfahren. Nur deshalb hatte er den Richter um die Genehmigung ersucht, im Rahmen der Fahndung nach Hirtmann Lisa Ferney befragen zu dürfen: Er wollte sich Zugang zum Gefängnis verschaffen.
Während er durch die schmalen Gänge ging, dachte er darüber nach, was ihm Élisabeth Ferney gerade gesagt hatte. Jemand war ihm zuvorgekommen. Eine Person, die er lange nicht gesehen hatte. Das Bild der Lawine stand ihm wieder vor Augen.
Die Tür wurde entriegelt, und er erschrak. Eingefallene Wangen, rote Augen, verzweifelter Blick. Er wusste, dass Hugo in einer Einzelzelle untergebracht worden war, aber plötzlich hatte er Angst um ihn. Wenn Marianne ihren Sohn in diesem Zustand sähe, wäre sie entsetzt.
Servaz ging wieder hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
„Ich will, dass er intensiv überwacht wird“, sagte er dem Wärter. „Nehmen Sie ihm den Gürtel ab, die Schnürsenkel, alles. Ich befürchte, er könnte eine große Dummheit machen. Dieser Junge wird bald hier rauskommen. Das ist nur eine Frage der Zeit.“
Er dachte wieder an die Worte von Lisa Ferney: „ Letzte Woche hat sich ein Mädchen mit ihrem Gürtel erhängt. Es war ihr siebter Versuch, und sie hatte groß angekündigt, dass sie es wieder versuchen würde. Trotzdem wurde sie nicht überwacht …“
Der Wärter grinste ihn verächtlich an.
„Verdammt! Haben Sie mich verstanden?“
Gleichgültig nickte der Wärter. Servaz nahm sich vor, gleich noch mit dem Direktor zu sprechen, und kehrte in die Zelle zurück.
„Guten Tag, Hugo.“
Keine Antwort.
Wie bei Élisabeth Ferney zog er einen Stuhl heran und setzte sich.
„Hugo“, hob er an, „das hier …“ Er machte eine Geste, die den Raum und alles ringsum einbezog. „Es tut mir furchtbar leid. Ich habe alles getan, damit der Richter dich auf freien Fuß setzt, aber offenbar … wiegen die Verdachtsmomente zu schwer … Zumindest im Augenblick.“
Hugo sah auf seine Hände. Servaz‘ Blick fiel auf seine Fingernägel – sie waren blutig gekaut.
„Es haben sich nämlich neue Erkenntnisse ergeben … Es ist also sehr gut möglich, dass du nicht mehr sehr lange hier bleiben musst.“
„ Holen Sie mich hier raus!“
Der Schrei traf den Polizisten völlig unvorbereitet. Er zuckte zusammen. Ein Flehen, eine Beschwörung. Servaz sah Hugo an. Seine Augen tränten, seine Lippen zitterten.
„Holen Sie mich hier raus, bitte!“
Ja , dachte er. Keine Sorge. Ich werde dich hier rausholen. Aber du musst durchhalten, mein Junge.
„Hör zu!“, sagte Servaz. „Du musst mir vertrauen. Ich werde dir helfen, hier rauszukommen – aber du musst mir auch helfen. Ich darf eigentlich gar nicht hier sein und mit dir reden: Gegen dich wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, und nur ein Richter darf in Gegenwart deines Anwalts mit dir sprechen. Ich könnte hart dafür bestraft werden. Aber es gibt neue Erkenntnisse. Die zwingen den Richter dazu, seinen Standpunkt zu überdenken. Verstehst du?“
„Welche neuen Erkenntnisse?“
„Kennst du Paul Lacaze?“
Das Blinzeln entging ihm nicht. Servaz war nicht umsonst seit fünfzehn Jahren Ermittler.“
„Du kennst ihn, oder? ODER?“
Hugo sah erneut auf seine abgekauten Nägel.
„Verdammt, Hugo! …“
„Ja … ich kenne ihn.“
Servaz wartete schweigend ab.
„Ich weiß, dass er oft mit Claire zusammen war …“
„ Mit ihr zusammen war? “
„Sie hatten ein Verhältnis … das top secret war. Lacaze ist verheiratet, und er ist Abgeordneter und Bürgermeister von Marsac. Aber woher wissen Sie das?“
„Wir haben auf Claires Rechner E-Mails gefunden.“
Diesmal zeigte der Junge keine Reaktion. Anscheinend war Hugo weder überrascht noch im Bilde. Also hatte vielleicht nicht er die E-Mails gelöscht.
Servaz beugte sich über den Tisch.
„Paul Lacaze hatte ein supergeheimes Verhältnis mit Claire Diemar. Ein Verhältnis, von dem niemand wusste, du hast es selbst gesagt. Eine äußerst heikle Angelegenheit. Wie hast dann du davon erfahren?“
„Sie hat es mir gesagt.“
Servaz starrte ihn verblüfft an.
„Was?“
„Claire
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