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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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vor.
    Die Frau bedeutete ihm, einzutreten. Er holte tief Luft und trat über die Schwelle. Die Gefangene mit der Nummer 1614 saß am Tisch; sie hatte die Unterarme flach auf die Tischplatte gelegt und die Hände gefaltet. Das Licht der Neonröhre fiel auf ihr dunkelbraunes Haar, das nicht mehr lang, geschmeidig und dicht war wie bei ihrem letzten Zusammentreffen, sondern kurz, trocken und stumpf. Aber der Blick war noch derselbe. Élisabeth Ferney hatte nichts von ihrer Arroganz verloren. Und auch nichts von ihrer Autorität. Servaz hätte gewettet, dass sie sich hier Respekt verschafft hatte, wie damals als Pflegedienstleiterin im Institut Wargnier. Eine, der sich alle beugten. Die, die Julian Alois Hirtmann die Flucht ermöglicht hatte. Servaz hatte an ihrem Prozess teilgenommen. Ihr Anwalt hatte versucht, sie als Opfer von Hirtmanns Manipulationskünsten hinzustellen – aber die Persönlichkeit seiner Mandantin hatte gegen sie gesprochen. Die Geschworenen konnten sich selbst davon überzeugen, dass die Frau auf der Anklagebank nichts von einem Opfer hatte.
    „Hallo, Commandant!“
    Die Stimme war noch genauso fest. Aber er bemerkte eine neue Nuance: Überdruss. Oder Müdigkeit. Ein leicht schleppender Tonfall. Servaz fragte sich, ob Lisa Ferney Antidepressiva nahm. Das war hier gang und gäbe.
    „Guten Tag, Elisabeth.“
    „Ach, sieh an, per Vorname. Sind wir neuerdings Kumpel? Das wusste ich gar nicht … Hier nennt man mich meistens Ferney. Oder 1614. Diese Schlampe, die Sie hergebracht hat, nennt mich das ‚Oberarschloch‘. Aber das ist nur die Fassade. In Wirklichkeit kommt sie mich nachts besuchen, und da geht sie in die Knie …“
    Servaz versuchte ihre Miene zu ergründen, um das Wahre vom Erfundenen zu unterscheiden, aber das war verlorene Mühe. Élisabeth Ferney war unergründlich. Nur ihre braunen Augen funkelten gelegentlich vor Schadenfreude. Servaz hatte einen Gefängnisdirektor gekannt, der die weiblichen Häftlinge, für die er verantwortlich war, „Schlampen“ oder „Nutten“ nannte. Er beleidigte sie auf Schritt und Tritt, belästigte die Jüngeren sexuell und ging nachts in Begleitung einiger Wärter in den Frauentrakt, um sich von den Gefangenen einen blasen zu lassen. Zwar war er abgesetzt worden, musste sich aber nicht strafrechtlich verantworten, da der Staatsanwalt die Absetzung für Strafe genug gehalten hatte. Servaz wusste nur zu gut, dass in der Gefängniswelt alles möglich war.
    „Wissen Sie, was mir am meisten fehlt?“, fuhr sie fort, offensichtlich zufrieden mit der Reaktion, die sie auf seinem Gesicht las. „Das Internet. Wir sind alle süchtig nach diesem Scheiß geworden, das ist verrückt. Ich bin sicher, der Facebook-Entzug wird die Selbstmordraten in den Gefängnissen in die Höhe treiben.“
    Er zog einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Durch die geschlossene Tür hörte er Geräusche. Hallende Stimmen, Rufe, einen quietschenden Karren – und dann ein ganz besonderes Geräusch: das Klirren von Metall auf Metall. Servaz wusste, was das war. Hofgang. Die Wärter nutzten diese Gelegenheit, um sich in den Zellen davon zu überzeugen, dass kein Fenstergitter angesägt worden waren, indem sie mit einer Eisenstange dagegen schlugen. Der Lärm … Nichts machte den Gefangenen ihre Einsamkeit schmerzlicher klar als diese ständige Geräuschkulisse.
    „Wussten Sie, dass siebzig Prozent der Strafgefangenen hier drogensüchtig sind? Weniger als zehn Prozent erhalten eine Drogenersatztherapie. Letzte Woche hat sich ein Mädchen mit ihrem Gürtel erhängt. Es war ihr siebter Versuch, und sie hatte groß angekündigt, dass sie es wieder versuchen würde. Trotzdem wurde sie nicht überwacht. Sie sehen, ich könnte ausbrechen, wenn ich wollte. Irgendwie.“
    Er fragte sich, worauf sie hinauswollte. Hatte Élisabeth Ferney versucht sich umzubringen? Er nahm sich vor, beim medizinischen Personal nachzufragen.
    „Aber Sie sind bestimmt nicht nur gekommen, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen, oder?“
    Servaz hatte diese Frage erwartet. Wieder dachte er an den Rat seines Vaters. Aufrichtigkeit … Er war sich nicht sicher, ob das die richtige Strategie war – aber eine andere hatte er nicht auf Lager.
    „Julian hat mir geschrieben. Eine E-Mail. Ich glaube, er hält sich in Toulouse auf. Oder jedenfalls nicht weit weg.“
    Hatte er im Blick der ehemaligen Pflegedienstleiterin etwas gelesen? Oder war es nur seine Einbildung? Sie starrte ihn an, so

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