Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Antwort. Hinter ihm klackende Schritte auf dem Beton …
„Ich weiß nicht, das ist merkwürdig“, sagte Espérandieu. „Irgendetwas stimmt nicht.“
Servaz erkannte an der Stimme seines Mitarbeiters, dass er zu derselben Schlussfolgerung gelangt war wie er: Dieser Fall blieb ein Rätsel. Es war, als hätten sie sämtliche Schlüssel, aber nicht das richtige Schloss. Er ging langsamer. Er war auf der Höhe seines Cherokee angelangt. Die Schritte kamen näher … Er drückte auf die Fernbedienung, das Fahrzeug gab einen doppelten Piepton von sich, und die Lichter blinkten zur Begrüßung.
„Pass jedenfalls auf …“, hob sein Mitarbeiter an.
Servaz drehte sich um. In einer schnellen, flüssigen Bewegung. Da war er … Kaum einige Zentimeter entfernt … Die Hand in der Tasche seiner Lederjacke. Servaz sah sein eigenes Spiegelbild in der schwarzen Brille seines Gegenübers. Er erkannte das Lächeln wieder. Die blasse Haut und die braunen Haare. Ehe Hirtmann seine Waffe ziehen konnte, schlug der Polizist mit seiner freien Hand zu.
Der Haken tat ihm in den Fingergliedern furchtbar weh. Trotzdem ließ er dem Schweizer nicht die Zeit, sich wieder zu fassen. Er packte ihn an der Lederjacke, schmetterte ihn gegen einen Wagen auf der anderen Seite des Durchgangs und presste sein Gesicht gegen die Heckscheibe. Der Schweizer stieß einen Fluch aus. Seine Sonnenbrille fiel klirrend auf den Boden. Servaz stemmte sich gegen seinen Rücken. Die Hand des Polizisten wühlte bereits in der Innentasche der Jacke. Seine Finger fanden, was sie suchten … Das heißt beinahe. Es war keine Waffe.
Ein Handy …
Mit einem Ruck drehte er seinen Gegner um. Es war auch nicht Hirtmann. Daran bestand nicht der geringste Zweifel. Selbst ein plastischer Chirurg hätte seine Gesichtszüge nicht so stark verändern können. Die Nase des Mannes blutete stark. Er blickte verstört und verängstigt um sich.
„Nehmen Sie mein Geld! Nur zu! Aber tun Sie mir nichts! Bitte!“
Der Mann war ungefähr so alt wie er und roch aus dem Mund. Servaz hob die Sonnenbrille auf, setzte sie ihm wieder auf und klopfte den Lederblouson ab.
„Tut mir leid“, sagte er. „Ich habe Sie mit jemandem verwechselt.“
„Was? Was?“, quiekte der Mann, erleichtert, entrüstet und perplex zugleich, während Servaz sein eigenes Handy in die Tasche steckte und sich in flottem Schritt entfernte.
Er ließ den Motor an, legte den Rückwärtsgang ein, sein Getriebe ächzte. Durch die Heckscheibe sah er, dass der Mann sein Telefon herausgeholt hatte und auf sein Nummernschild starrte. Mit der anderen Hand versuchte er mit Hilfe eines dicken Stoßes bereits blutbefleckter Papiertaschentücher die Blutung seiner Nase zu stillen.
Servaz hätte den Schaden, den er angerichtet hatte, gern wieder gutgemacht, aber es war zu spät. Er hatte sich schon oft gesagt, dass eine Zeitmaschine für Typen wie ihn die schönste Erfindung wäre – für Leute, die dazu neigten, erst zu handeln und dann nachzudenken. Wie viel hätte er in seinem Leben retten können, wenn er über eine solche Maschine verfügt hätte? Seine Ehe, seine Karriere, Marianne …? Er legte den Vorwärtsgang ein und fuhr los, die Reifen quietschten auf dem glatten Belag der Tiefgarage.
Vielleicht machte er sich Illusionen, sagte er sich, während er zur Ausfahrt fuhr. Vielleicht neigte er dazu, sich das Leben unnötig schwer zu machen. Vielleicht hatte Hirtmann gar nichts damit zu tun … Vincent hatte recht: Wie hätte er das anstellen sollen? Aber vielleicht lag ja auch er richtig und alle anderen hatten unrecht: Dann hatte er allen Grund, sich den Rücken freizuhalten, auf der Hut zu sein, sich vor der Zukunft zu fürchten.
Allen Grund, Angst zu haben.
27
Am Ende des Weges
Drissa Kanté erwachte von einem Hupen auf der Straße. Oder vielleicht von seinem Albtraum.
#In diesem Traum war es Nacht, mitten auf dem Meer, irgendwo südlich von Lampedusa, Hunderte von Kilometern vor der Küste. Eine stürmische Nacht, Windstärke 8. Meterhohe Brecher hoben den Kutter mit den 77 Menschen an Bord – darunter dreizehn Frauen und acht Kinder. Sie zitterten vor Kälte, aber auch vor Angst, weil sie befürchteten, das Boot könnte jeden Moment kentern. Durch ein Leck füllte sich der Bootsrumpf viel schneller mit Wasser, als sie es ausschöpfen konnten. Frauen schrien, Kinder weinten, und der Höllenlärm des entfesselten Meeres gab ihnen den Rest.
Der Außenbordmotor hatte schon bald, nachdem sie in See
Weitere Kostenlose Bücher