Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Drissa in Frankreich schließlich eine Anstellung in einer Reinigungsfirma. Ein guter Fang. Er stand jeden Morgen um drei Uhr auf, um Büros zu putzen. Das war keine allzu anstrengende Arbeit. Er hatte sich an das beruhigende Geräusch des Staubsaugers, den Gummigeruch der Teppichböden, Ledersessel und Haushaltsreiniger und an die schlichte Routine seiner Arbeit gewöhnt – dabei hatte er ein Ingenieur-Diplom. Mit seinem kleinen Reinigungstrupp – fünf Frauen und zwei Männer -, zog er von einem Bürogebäude zum nächsten. Nachmittags ruhte er sich aus. Abends traf er sich in den Cafés der Stadt mit seinesgleichen, um von dem anderen Leben zu träumen, auf das er einen kurzen Blick erhaschen konnte, wenn er an den Schaufenstern vorbeiging und hinter den Fenstern der Restaurants die Gäste sitzen sah.
Doch eines ließ Drissa keine Ruhe und trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn. Er hatte sich mit dem Traum nicht begnügt. Er hatte dieses bessere Leben schmecken wollen. Und deshalb hatte er sich zu dem bereitgefunden, was er jetzt bedauerte. Drissa Kanté war von Grund auf rechtschaffen. Wenn es eines Tages herauskommen sollte, würde er seine Arbeit verlieren. Und vielleicht noch viel mehr. Er wollte nicht in seine Heimat zurück – nicht mehr.
Die Straßen von Toulouse sprühten vor der Energie eines Sommerabends, als er im dichten Verkehrstrubel auf den Gehsteig trat. Es war 19 Uhr, und die Temperatur lag noch immer bei knapp 35 Grad. So heiß war es in der Stadt gewöhnlich nur im Juli oder August. Er freute sich. Er mochte die Hitze. Im Gegensatz zu den meisten Bewohnern dieser Stadt, die jetzt nicht genügend Luft bekamen, konnte er so besser atmen.
Er setzte sich auf die Terrasse des Cafés L´Escale an der Place Arnaud-Bernard, grüßte Hocine, den Wirt, bestellte einen frischen Minztee, und wartete auf seine beiden Freunde, Soufiane und Boubacar. Vom Nebentisch stand ein Gast auf und pflanzte sich vor ihm auf. Es war ein etwa vierzig Jahre alter Mann mit fettigem braunem Haar, seine Wampe spannte sein ehemals weißes Hemd unter seiner abgetragenen Jacke, und das Gesicht hinter einer dunklen Brille war undruchdringlich.
„Darf ich?“
Drissa seufzte.
„Ich erwarte Freunde.“
„Es dauert nicht lange, Driss. “
Drissa Kanté zuckte mit den Schultern. Zlatan Jovanovic ließ sich mit seinem Glas Bier auf den wackligen kleinen Stuhl fallen, der unter seinen 1,93 Meter und seinen 120 Kilo ächzte. Drissa verrührte gleichtgültig den Zucker in seinem kleinen dampfenden Glas mit Goldrand.
„Du musst mir einen Gefallen tun.“
Drissas Magen verkrampfte sich. Er sagte nichts.
„Hast du gehört?“
Er ahnte, dass der Mann ihn hinter seiner dunklen Brille anstarrte.
„Ich will nichts mehr mit so was zu tun haben“, antwortete er mit fester Stimme, die Augen auf das karierte Tischtuch gerichtet. „Das ist vorbei.“
Das schallende Gelächter, das diese Erklärung auslöste, ließ ihn auf seinem Stuhl zusammenzucken. Drissa warf einen besorgten Blick auf die anderen Gäste, die sie jetzt alle anstarrten.
„Er will nichts mehr mit so was zu tun haben!“, stieß Zlatan laut hervor und lehnte sich zurück. „Hör sich einer das an!“
„Seien Sie still!“
„Immer mit der Ruhe, Driss. Hier interessiert sich keiner für die Angelegenheiten der anderen, das solltest du wissen.“
„Was wollen Sie von mir? Ich hab Ihnen doch beim letzten Mal gesagt, dass ich aufhöre.“
„Ja, ich weiß, aber … nun, es haben sich neue Entwicklungen ergeben. Genauer gesagt: Ich habe einen neuen Klienten.“
„Das geht mich nichts an, ich will davon nichts wissen.“
„Ich fürchte, er braucht uns, Driss“, fuhr der Mann unbeeindruckt fort, als wären sie zwei Geschäftspartner bei einer Projektbesprechung. „Und er zahlt gut.“
„Das ist Ihr Problem, suchen Sie sich einen anderen Dummen! Ich habe einen Schlussstrich gezogen.“
Je länger Drissa sprach, umso entschlossener war er. Vielleicht begriff der Mann ihm gegenüber endlich, dass er nicht mehr mit ihm rechnen konnte. Er müsste lediglich standhaft bleiben. Notfalls die ganze Nacht. Irgendwann würde der Mann schon aufgeben.
„Niemand zieht jemals endgültig einen Schlussstrich, Driss. Nicht bei so was. Niemand beschließt einfach so, von heute auf morgen aufzuhören. Mit mir macht das keiner. Wann Schluss ist, entscheide ich, kapiert?“
Drissa lief es kalt über den Rücken.
„Sie können mich nicht zwingen …“
„Aber ja
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