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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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gestochen waren, seinen Geist aufgegeben. Zähneklappernd dachte Drissa an die libyschen Fluchthelfer, die ihnen für diese Überfahrt ihre letzten Ersparnisse abgenommen hatten, an die Tuareg in Gao, an die Sklavenhändler in Dirkou, an die Soldaten und die Grenzschützer, an all diese Aasgeier, die sich auf jeder Etappe ihrer „Reise“ auf ihre Kosten bereichert hatten – und er verfluchte sie.
    Als dann mitten im Regen, in den Blitzen und der Gischt am Horizont die Lichter des maltesischen Frachters erschienen, wähnten sie ihre Rettung nahe. Aber der Frachter hielt nicht. Das große Schiff fuhr dicht an ihnen vorbei, und sie begegneten den gleichgültigen Blicken der maltesischen Fischer, die sich dort oben auf der Brücke mit den Ellbogen auf die Reling stützten; einige lachten sogar unter den Kapuzen ihres Ölzeugs oder winkten ihnen zu. Verzweifelt stürzte er sich mit etwa dreißig Männern ins Wasser und versuchte, sich durch das Auf und Ab der wandernden Wellenberge zu dem riesigen, prall mit Thunfischen gefüllten Netz vorzukämpfen, das der Fischkutter hinter sich herzog. In seinem Traum kämpfte Drissa gegen das eiskalte Wasser, und die Seeleute schossen auf ihn, während die Thunfische unter ihm heftig um sich schlugen und drohten, ihn mit ihren großen Schwanzflossen zu zerschmettern. An dieser Stelle wachte er auf.
    Mit schweißgebadetem nacktem Oberkörper und offenem Mund sah er sich um, und sein pochendes Herz beruhigte sich allmählich, als er das Zimmer erkannte. Er rieb sich die Augen und sagte sich immer wieder, wie ein Mantra: Ich heiße Drissa Kanté, geboren in Ségou, Mali, ich bin 33 Jahre alt, und ich lebe und arbeite jetzt in Frankreich.
    In Wirklichkeit hatten sich seine Gefährten drei Tage und drei Nächte lang an dem Fischernetz festgeklammert, ehe sie von der italienischen Marine gerettet wurden: Er hatte das an Bord des Schiffes, das ihn schließlich aufgenommen hatte, in der Zeitung gelesen. Der Kapitän des maltesischen Fischkutters hatte erklärt, er habe sie nicht an Bord nehmen und vor allem ihretwegen nicht seinen Kurs ändern können, ohne Gefahr zu laufen, seine „wertvolle Ladung Thunfisch“ zu verlieren. Drissa selbst hatte sich entschieden, mit den Frauen und Kindern an Bord der Schaluppe zu bleiben, auch wenn sie sinken sollte. Ein spanischer Trawler, die Rio Esera , hatte sie schließlich in letzter Minute von dem sinkenden Boot gerettet. Als der spanische Kapitän versuchte, seine Passagiere auf der Insel Malta abzusetzen, hatten es ihm die dortigen Behörden verboten. Eine Woche lang saß der Trawler vor der Küste Maltas fest, ehe man sich schließlich seiner unfreiwilligen Ladung annahm.
    In Malta sagte man ihm, er solle mit dem Bus der Linie 113 zu einem Aufnahmelager fahren, in dem er schlafen und duschen könne und zu essen bekomme. An der Haltestelle lag ein Haufen Papiere herum. Flugblätter. Er hatte eines auseinandergefaltet. Darauf stand, auf Englisch:
     
    Jagd eröffnet
    auf alle illegalen Einwanderer
    Erschießt alle schwarzafrikanischen Einwanderer
    Wir wollen euch verdammte Hurensöhne nicht.
    Haut ab, solange ihr noch könnt, und sagt es euren Freunden.
     
    Die letzte Zeile bestand aus Totenköpfen, die das Kürzel „KKK“ einrahmten. Drissa war mit dem Bus bis zur Endstation gefahren. Das Lager Hal Far, ein ehemaliger Militärflughafen. Blechcontainer mit kleinen Fenstern, ein Zeltdorf und ein großer Hangar ohne Flugzeuge. Allein im Hangar waren über vierhundert Personen zusammengepfercht. Er selbst wohnte über ein Jahr in einem der 25 Quadratmeter großen Wohncontainer, in den acht Stockbetten hineingezwängt worden waren. Im Sommer erreichte die Temperatur fünfzig Grad; im Winter verwandelten sich die Straßen des Lagers in Schlammkuhlen. Etwa dreißig völlig verdreckte Kunststoffkabinen dienten zugleich als Duschen und Toiletten. Viele der Migranten bereuten es, ihre Heimat verlassen zu haben. Und dann, 2009, ein kleiner Hoffnungsschimmer: Der französische Botschafter in Malta, Daniel Rondeau, hatte angeboten, die Flüchtlinge in Frankreich aufzunehmen; andere europäische Länder wie Deutschland und Großbritannien unterstützten die Initiative. So war Drissa Kanté mit mehreren Dutzend anderen Flüchtlingen aus Malta im Juli in Frankreich eingetroffen.
    Immerhin musste er sich jetzt nicht mehr an einen Kreisverkehr stellen und hoffen, dass ihn ein vorbeifahrender Auftraggeber als Tagelöhner verdingte. Nach einiger Mühe fand

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