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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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der Name, auf dem Papier. Marsac. Aber was daran war eigentlich ungewöhnlich, schließlich war Elvis in der Gegend aufgewachsen? Bevor er seine kriminelle „Karriere“ begonnen hatte, war Elvis Konstandin Elmaz Aufseher in einer Mittelschule in Marsac gewesen.

35
     
    Die Ratten
    Servaz fuhr über die Hügel. Die Vorzeichen eines nahenden Gewitters mehrten sich: Die Landschaft hatte eine andere Farbe angenommen, sie schimmerte in einem metallischen Grau, der Himmel war noch dunkler geworden, und hin und wieder waren an dem mit Schäfchenwolken verhangenen Horizont Wetterleuchten zu sehen. Er machte kurz auf dem grünen Seitenstreifen mitten im ausgedehnten Wald halt, um sich mental vorzubereiten. An den Wagen gelehnt, rauchte er in aller Ruhe eine Zigarette, während er die lange gerade Linie betrachtete, die den Hügel gegenüber herunterkam und dann zu ihm anstieg – eine schnurgerade Schneise mitten durch den Wald. Er beobachtete, wie Fliegen und kleine Mücken sich der allgemeinen Erregung hinzugeben schienen. In der Ferne hörte er nervöses Hundegekläff. Verjagte mit der Hand eine Bremse, der die drückende Schwüle zusetzte. Dann fuhr er weiter. In den fünf Minuten hatte er kein einziges Fahrzeug vorbeikommen gesehen.
    Servaz´ Herz pochte, als er am Ende des Waldwegs am Rand der Lichtung aus dem Cherokee stieg. Seit der Räumung des Zwingers war es still hier. Alle Hunde waren eingeschläfert worden. Unter dem Gewitterhimmel wirkte die Lichtung noch unheimlicher. Er stieg die quietschenden Stufen zur Veranda hinauf, hob das Absperrband der Gendarmerie an und schloss die Tür mit einem Hauptschlüssel auf. Innen sah er sich um, während er ein Paar Handschuhe überstreifte. Die Beamten der Mordkommission hatten alles auf den Kopf gestellt, aber etwas Bestimmtes hatten sie nicht gesucht. Hatten sie etwas übersehen? Servaz betrachtete das Chaos, das hier herrschte. Die Möbel, der Boden, die Kochecke, das schmutzige Geschirr in der Spüle, die Pizza- und Hamburger-Boxen, die vollen Aschenbecher und die leeren Bierflaschen: Alles war so zurückgelassen worden, wie man es vorgefunden hatte, nur war es mittlerweile von mineralischem und organischem Staub in unterschiedlichen Farben bedeckt. Er fragte sich, wer das wohl alles aufräumen würde. Ein fernes Donnergrollen drang durch die offene Tür, und Servaz hörte draußen die Blätter rascheln.
    Er begann mit der Erkundung. Das Licht, das durch die Fenster fiel, war bleigrau, als befände er sich am Grund eines Ozeans. Er machte die Taschenlampe an.
    Eine gute Stunde brauchte er für den Rundgang durchs Erdgeschoss. Im Schlafzimmer herrschte die gleiche abstoßende Unordnung wie im Wohnzimmer: Auf dem zerwühlten Bett lag schmutzige Unterwäsche neben den Verpackungen von Videospielen. Ein leichter Geruch nach Cannabis und Verwesung hing in der Luft. Überall sirrten Fliegen umher, aufgereizt durch das herannahende Gewitter. Er durchsuchte auch das Badezimmer, wo ihm jedoch nichts Besonderes auffiel – nur Einwegrasierer, deren Klingen von Barthaaren verstopft waren, ein schmutziger Handschuh, eine gräuliche Toilettenseife, eine Zahnbürste mit eingetrockneter Zahnpasta, und dem Arzneischränkchen nach eine offenkundige Abhängigkeit von allen möglichen Medikamenten. Der Boden der Duschkabine war grün vor Schimmel; die Klospülung betätigte Elvis ganz offensichtlich nicht gerade regelmäßig, denn in der Toilette stand eine Urinpfütze, in der Toilettenpapier schwamm. Servaz ging wieder in den schmalen Gang, der zum Wohnzimmer und zur Küche führte. Über ihm war eine Klappe. Er holte einen Stuhl, stieg darauf und umfasste den Griff. Die Klappe ging auf und brachte eine Metalltreppe zum Vorschein, die er auszog.
    Der Dachboden war niedrig, und er musste sich im Gehen bücken. Erhellt wurde der Raum nur schwach durch ein Dachfenster aus Glasziegeln. Elvis hatte dort alles Ausrangierte von etlichen Jahren eingelagert: alte Computer, Drucker, Kleidungsstücke, die, auf Bügeln an Ständern hängend, vor sich hin fusselten, Kartons, Schachteln, Aktenordner, ausgemusterte Staubsauger, Tapetenrollen, Spielkonsolen, VHS-Kassetten mit Pornofilmen … Auf den staubigen Latten des Fußbodens entdeckte Servaz mehrere Trittspuren von Ratten oder Mäusen. Wie Ameisen, wusste Servaz, hatten Ratten ausgeprägte Verhaltensroutinen; sie neigten dazu, immer den gleichen Weg zu nehmen – und dort Fußabdrücke, Urin und Exkremente zu hinterlassen. Im hinteren Teil

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