Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
eines Schranks fand Servaz unter Winterkleidung und Schneestiefeln weitere Blechboxen. Er zog sie über den Boden zu sich, setzte sich, hob den Deckel der ersten an – und eine Sekunde lang meinte man, die Zeit stünde still. Ein Kind spielte in Begleitung seiner Eltern mit einem Eimer und einer Schaufel am Strand … ein Kind in seinem kleinen roten Plastiktretauto aus mit gelbem Lenker. Ein Kind wie alle anderen … Noch kein Monster, noch kein Ganove. Servaz war sich sicher, dass das Elvis war. An einigen Details erahnte man bereits den Erwachsenen in ihm. Aber dieses Kind wirkte genauso unbeschwert, verspielt und unschuldig wie alle Kinder. Auch Löwenjunge sahen schließlich aus wie goldige Kuscheltiere.
Er suchte weiter.
Fotos des jugendlichen Elvis. Er machte schon einen düstereren, verschlageneren Eindruck. Ein verstohlener Blick in die Kamera. Täuschte sich Servaz? Da hatte sich etwas verändert. Irgend etwas war passiert. Er hatte nicht mehr dieselbe Person vor sich.
Eine Frau … Sie schmiegte sich an Elvis … Seine Ehefrau? Die, die nach acht Monaten die Scheidung eingereicht hatte? Die, die er krankenhausreif geschlagen hatte, nachdem sie geschieden worden war? Auf dem Foto wirkte sie glücklich, vertrauensvoll. Sie hatte die Arme um ihn geschlungen, aber während sie fröhlich in die Kamera sah, blickte er in eine andere Richtung.
Weitere Fotos von Leuten, die Servaz nicht kannte. Er machte die Box wieder zu. Sah sich um. Folgte zerstreut mit den Augen der Spur der Exkremente, die die Ratten hinterlassen hatten.
Das Ermittlerteam hatte den Dachboden bereits gefilzt, er hatte ihren Bericht gelesen. Sie hatten nach Indizien, nach Spuren von denen gesucht, die Elvis überfallen und seinen Hunden zum Fraß vorgeworfen hatten. Und er, was suchte er? Im Moment interessierten ihn nicht Elvis‘ Angreifer, sondern Elvis selbst.
Durchleuchtet meine Vergangenheit, hatte der Albaner geschrieben.
Hier sah er nichts. Nur einen gewöhnlichen Dachboden. Seit einer guten Stunde stellte er alles auf den Kopf, öffnete sogar die Verpackungen der Videospiele und der Pornokassetten und fragte sich, ob er sie sich ansehen müsste, falls …
Er kam sich selbst wie eine Ratte vor.
Wie die, die diese Fährte auf dem Fußboden hinterlassen hatten, wie eine Karawane in der Wüste.
Die Trittspur …
An einer Stelle hörte sie plötzlich auf. Und setzte sich ein Stück weiter fort. Servaz starrte darauf, als ihm plötzlich ein Licht aufging. Er kam heran, kniete sich nieder, beugte sich nach vorn. Genau an dieser Stelle waren die Latten nicht so fest miteinander verbunden wie ringsum, und die Staubschicht war dünner. Servaz legte die Hände auf die beiden schlecht verfugten Latten und ließ seine Finger darüber gleiten. Sie suchten einen Halt. Fanden ihn. Er zog und hob die beiden Latten an. Darunter war ein Hohlraum … eine Nische. Darin lag etwas. Servaz griff nach dem Gegenstand, der auf dem Boden des Loches lag, und zog ihn aus seinem Versteck.
Ein Aktenordner.
Er klappte den festen Deckel auf und entdeckte durchsichtige Trennblätter, die an einem Spiraleinband befestigt waren. Er begann sie umzuschlagen. Sein Herz klopfte. Er hatte etwas … Er setzte sich bequemer auf den staubigen Boden und sah sich nacheinander die Fotos an.
36
Ablenkung
Du wirst überwacht. Wir müssen eine Möglichkeit finden, dich hier rauszuholen, ohne dass sie dich sehen.
Margot las die SMS noch einmal und tippte vier Wörter:
Wofür?
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ihr Smartphone gab seinen üblichen Harfenton von sich, und sie legte ihren Finger auf den Bildschirm.
Hast du vergessen? Es ist heute Abend …
Heute Abend ist was?, fragte sie sich. Dann fiel es ihr plötzlich wieder ein. Der Kreis … Neulich abends auf der Lichtung hatten sie von einer Versammlung am 17. gesprochen. Elias hatte recht: Heute war der 17. Juni. Sogar auf dem Pausenhof war den ganzen Tag lang über das offenbar entscheidende Spiel dieses Abends geredet worden: Frankreich gegen Mexiko. Statt eine SMS zu schicken, rief sie ihn an.
„Hallo“, sagte er vollkommen entspannt.
„Also schön, ich höre: Hast du eine Idee?“
„Ja, hab ich …“
„Raus damit.“
Er erläuterte es ihr. Margot schluckte. Gerade begeistert war sie nicht. Vor allem wenn sie an diesen Psychopathen dachte, der sich vielleicht da draußen herumtrieb. Aber Elias hatte recht: Heute Abend würde etwas passieren. Jetzt oder nie.
„Okay“, sagte
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