Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
sie. „Ich mach mich fertig.“
Sie legte auf, stand auf und holte ihren dunkelsten Kapuzenpulli sowie eine schwarze Hose, die in ihrem Wandschrank herumlag. Sie betrachtete sich im Spiegel, atmete tief ein und verließ das Zimmer. Auf dem Gang war es so still und dunkel, dass sie einen Augenblick lang versucht war, kehrtzumachen und ihn anzurufen, um ihm zu sagen, dass sie ausstieg.
In diesem Fall gibt es nur eine Lösung, meine Liebe: Nicht nachdenken. Kein „wenn aber“? Kein „Will ich überhaupt?“ Los, beweg dich!
Leise tappte sie in ihren Turnschuhen zur Treppe und eilte die breiten Stufen hinunter. Hinter dem großen Buntglasfenster war es aschgrau. Sie hörte das ferne Grollen des Donners. Als sie am Fuß der Treppe angekommen war, rief sie ihn an.
„Alles klar. Ich bin soweit …“
„Bleib, wo du bist, bis ich dir das Signal gebe …“
Elias versteckte sich gegenüber der Stelle, wo Margot stand, im Wald und hatte Samira Cheung in der Linse seines Fernglases. Die Polizistin hatte ein Auge auf das Gymnasium, konzentrierte sich jedoch meistens auf Margots Fenster. Sie hatte es offen stehen lassen, und die Nachttischlampe brannte. Die Tür, durch die sie das Gebäude verlassen sollte, war nur zwei Stockwerke tiefer, und Samira könnte sie nicht verfehlen.
Elias steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen langen, schrillen Pfiff aus. Im nächsten Moment sah er, wie sich der Kopf der Polizistin in seine Richtung drehte.
„Los!“, sagte er. „Lauf!“
Margot riss die Tür auf und trat ins Freie. Sie spürte sofort die Elektrizität, die in der Luft lag wie ein unheilkündendes Omen. Die Blätter zitterten, die Mauersegler schossen wie Pfeile durch die Luft, wie aufgepeitscht von dem herannahenden Gewitter. Sie duckte sich, wie es ihr Elias gesagt hatte, und rannte bis zur Ecke des Westflügels. Dann spurtete sie zum Eingang des Irrgartens.
„Alles okay“, sagte Elias in sein Handy. „Sie hat dich nicht gesehen.“
Margot fragte sich, ob sie das wirklich beruhigte. Jetzt war sie draußen und damit schutzlos ausgeliefert – während Vincent und Samira sie drinnen in Sicherheit wähnten. Der Gewitterhimmel legte seinen Grauschleier über das Hecken-Labyrinth wie über den Rest der Landschaft.
Eine Minute später, als sie durch die Gänge des Irrgartens schlich, tauchte plötzlich, wie ein Gespenst in einer Geisterbahn, Elias auf, und ihr Herz hüpfte in ihrer Brust.
„Mensch, Elias! Kannst du mich nicht vorwarnen?“
„Damit mich deine Leibwächterin erwischt? Schaust du kein Fußball?“
„Ach, spinn doch nicht rum.“
„Los, wir müssen uns beeilen!“ Er blieb kurz stehen. „Vielleicht treffen sie sich ja auch nur, um sich zusammen das Spiel anzuschauen.“
„Das würde mich wundern“, sagte sie und stieß ihn an. „Los jetzt!“
37
Donnerschlag
Ein Donnerschlag ließ den Dachstuhl erbeben. Noch immer kein Regen. Sonst hätte Servaz das Prasseln der Tropfen auf den Ziegeln gehört. Er hob die Augen. Auf dem Dachboden wurde es immer dunkler. Dabei war es erst 18 Uhr, und das an einem Juni-Abend.
Er konzentrierte sich wieder auf den Aktenordner.
Fotos. Mit einer erstklassigen Digitalkamera aufgenommen, dann auf DIN-A4-Format ausgedruckt. Sorgfältig abgelegt und mit Klarsichthüllen geschützt. Keine Namen – nur Orte sowie die Angabe von Datum und Uhrzeit. Phantasie schien nicht gerade die Stärke des Fotografen zu sein. Fast alle Fotos waren im Wald aufgenommen worden, aus derselben Perspektive, und alle zeigten mehr oder minder das gleiche Motiv: einen Mann reifen Alters mit heruntergelassenen Hosen, der mitten im Gestrüpp vögelte. Die nächsten Aufnahmen zeigten durchweg, wie der Mann sich aufrichtete. Die Serie endete immer mit einer oder mehreren Großaufnahmen vom Gesicht des Betreffenden.
Er blätterte weiter. Die Monotonie der Übung entlockte ihm beinahe ein Lächeln. Auch die Stellungen zeugten nicht gerade von großem Einfallsreichtum. Eher von Eile. Ein Quickie im Wald. Klick-Klack. Bitte lächeln, Sie werden gefilmt. Servaz konzentrierte sich auf die Partnerin, den Köder. Auf den meisten Aufnahmen sah man nur ihre Beine und Arme und ein Stück von ihren Haaren. Er glaubte auf der blassen Haut Sommersprossen zu entdecken, aber das ließ sich wegen der Bildauflösung nicht eindeutig erkennen. Er hätte gewettet, dass es jedes Mal dasselbe Mädchen war. Sie schien sehr jung zu sein, aber auch das ließ sich in Anbetracht des Aufnahmewinkels nur
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