Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Minister wirkte erschüttert.
„Ach nein?“, entgegnete der Wal. „Was haben Sie denn erwartet? Diese Frau hat Krebs im Endstadium, sie wurde verraten, verhöhnt, gedemütigt … Persönlich würde ich sie sogar gerne beglückwünschen. Dieser kleine Mistkerl hat nur bekommen, was er verdient.“
Den Minister überkam der Ärger. Der Wal trieb es seit über vierzig Jahren mit Nutten und spielte sich als Moralapostel auf!
„Das sagen ausgerechnet Sie.“
Der Senator führte das Glas Weißwein an seine Lippen.
„Spielen Sie auf meinen … regen Appetit an?“, sagte der Dicke, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen. „Das ist etwas ganz anderes. Und wissen Sie, wo der Unterschied liegt? In der Liebe … Ich liebe Catherine wie am ersten Tag. Ich bewundere meine Frau. Ich bin ihr voll und ganz ergeben. Die Nutten sind für die Hygiene. Und das weiß sie. Seit über zwanzig Jahren teilen Catherine und ich nicht mehr dasselbe Bett. Wie konnte sich dieser Schwachkopf nur einbilden, dass ihm Suzanne verzeihen würde? Eine Frau wie sie ... so stolz ... Eine Frau von Charakter. Eine bemerkenswerte Frau. Dass er herumvögelt, okay. Aber muss er sich denn gleich verlieben in diese …“
Der Minister schnitt das Gespräch ab.
„Was machen wir?“, sagte er.
„Wo war Lacaze an dem Abend? Hat er Ihnen das wenigstens gesagt?“
„Nein, und dem Richter auch nicht. Das ist verrückt! Er will mit niemandem darüber sprechen. Er hat den Verstand verloren!“
Diesmal blickte der Wal von seinem Teller auf und sah den Minister tatsächlich erstaunt an.
„Glauben Sie, dass er sie umgebracht hat?
„Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll … Aber die Indizien belasten ihn immer stärker. Mein Gott, die Presse wird sich auf ihn stürzen.“
„Lassen Sie ihn fallen“, sagte der Wal.
„Was?“
„Gehen Sie auf Distanz. Solange noch Zeit ist. Beschränken Sie sich vor den Medien auf das Nötigste: Unschuldsvermutung, Unabhängigkeit der Justiz … das übliche Geschwätz. Aber betonen Sie auch, dass vor dem Recht alle gleich sind … Alle werden das verstehen. Einen Sündenbock braucht man immer, da sage ich Ihnen nichts Neues. Unser liebes Volk unterscheidet sich in dieser Beziehung in nichts von den ersten Stämmen Israels: Sündenböcke liebt es. Lacaze wird auf dem Altar der Presse geopfert, sie werden ihn zerreißen und sich genüsslich an ihm weiden. Die Tugendwächter werden im Fernsehen ihre übliche Nummer abziehen, die Menge wird mit den Wölfen heulen. Und wenn sie mit ihm durch sind, kommt ein anderer dran. Wer weiß? Vielleicht sind morgen Sie an der Reihe. Oder ich … Opfern Sie ihn. Auf der Stelle.“
„Er hatte eine glänzende Zukunft vor sich“, sagte der Minister und sah auf seinen Teller.
„Möge er in Frieden ruhen“, antwortete der Wal und spießte eine weitere Schnecke auf. „Sehen Sie sich heute Abend das Spiel an? Nur das könnte uns noch retten: Weltmeister zu werden. Aber das ist ungefähr so wahrscheinlich wie unser Sieg bei den nächsten Wahlen …“
Um 15.15 Uhr fand Ziegler schließlich die Person, die sie suchte. Genauer gesagt, fand sie zwei potentielle Kandidaten. Die meisten Mitarbeiter der Reinigungstrupps von Clarion waren Frauen, die erst vor kurzem aus Afrika eingewandert waren.
Nur zwei der Beschäftigten waren Männer. Instinktiv hatte Ziegler beschlossen, mit ihnen anzufangen. Zunächst einmal, weil prozentual gesehen deutlich mehr Männer straffällig wurden, auch wenn der Anteil der Frauen zunahm. Zweitens, weil alle Statistiken zeigten, dass der Frauenanteil bei Straftaten gegen die Behörden extrem niedrig war. Und schließlich gingen Männer einfach höhere Risiken ein.
Der erste war ein Familienvater mit drei Kindern. Der 58 Jahre alte Mann arbeitete seit zehn Jahren bei der Reinigungsfirma. Davor war er fast dreißig Jahre lang in der Automobilindustrie gewesen. Wahrscheinlich war er den drastischen Umstrukturierungen in der Branche seit den neunziger Jahren zum Opfer gefallen. Ziegler legte seine Akte beiseite. Ein verbitterter Mann, der eine Familie zu ernähren hatte und nach dreißig Jahren treuer Mitarbeit eiskalt abserviert worden war. Ein möglicher Kandidat … Jetzt der nächste. Er war wesentlich jünger und wie durch ein Wunder aus einem Auffanglager auf der Insel Malta, wo er mit Hunderten anderen illegalen Einwanderern dahinvegetierte, erst vor Kurzem nach Frankreich gekommen. Er alleinstehend … Keine Frau, keine Kinder … Seine
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