Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
ganze Familie war in Mali geblieben. Ein einsamer Mann, der nach einer lebensgefährlichen Flucht in einem fremden Land gestrandet war und sich in einer prekären Lebenssituation befand … Einer, der versuchte, sich zu integrieren und in der Menge aufzugehen, ohne allzu sehr aufzufallen. Der ein paar Freunde finden wollte. Vermutlich war er für seine Arbeit weit überqualifiziert. Und bestimmt hatte er auch eine Heidenangst davor, in seine Heimat zurückgeschickt zu werden. Unschlüssig pendelte ihr Blick zwischen den beiden Akten hin und her, bis ihr Zeigefinger auf der zweiten liegen blieb. Er war ein ideales Ziel.
Er hieß Drissa Kanté.
Espérandieu hörte Use Somebody von den Kings of Leon in den Ohrhörern seines iPhones, während er das Schlachtfeld vor ihm betrachtete. Die drei Followill-Brüder und ihr Cousin Matthew sangen You know that I could use somebody/Someone like you . Vincent trällerte mit, dann verwünschte er insgeheim Martin. Er hatte mitbekommen, wie seine Kollegen einen Großbildfernseher im Sitzungssaal aufgestellt und den Kühlschrank mit Sixpacks beladen hatten. Garantiert würden sich in einer knappen Stunde nacheinander alle Büros leeren. Er wäre gern bei der Fete dabei gewesen, aber er konnte nicht, denn vor ihm lagen tonnenweise administrativen Dokumente, die er in möglichst kleine Stöße aufgeteilt hatte. Es waren Dutzende.
Er hatte bereits den ganzen Vormittag und den halben Nachmittag mit Recherchen über die Vergangenheit von Elvis Konstandin Elmaz verbracht – der noch immer im Krankenhaus im Koma lag. Er hatte sich bei den Finanzbehörden erkundigt und die Datenbanken der staatlichen Sozial- und Krankenversicherung abgefragt, um den beruflichen Werdegang von Elmaz zu rekonstruieren - immer vorausgesetzt, der Albaner war überhaupt jemals einer legalen Tätigkeit nachgegangen. Er hatte in den Kraftfahrzeug- und Führerscheindateien der Präfektur recherchiert und dem Standesregister alle wesentlichen Informationen über Elmaz‘ Personenstand entnommen (kaum zu glauben, aber Elviz war zwischen 2001 und 2002 verheiratet gewesen, allerdings nur acht Monate lang; Nachkommen hatte er freilich nicht – jedenfalls keine amtlich registrierten!). Außerdem hatte er sich beim Sozialamt erkundigt und eine Anfrage ans Verteidigungsministerium gestellt, um Informationen über eine etwaige militärische Laufbahn einzuholen.
Ergebnis: Espérandieu hatte eine Fülle von Daten vorliegen, die aber alle nicht zusammenpassten. Schlimmer hätte es nicht kommen können.
Er seufzte. Dass er lieber irgendwo anders gewesen wäre, wäre stark untertrieben. Es war äußerst beschwerlich und unangenehm, den Lebensweg von Elvis Konstandin Elmaz zu rekonstruieren. Elvis war der typische Wiederholungstäter, der zwischen Gefängnis und einem Leben in Freiheit hin und her pendelte. Sein Strafregister spiegelte die gewalttätige und zutiefst abstoßende Persönlichkeit dieses Mannes wider. Drogenhandel, schwere Körperverletzung, Diebstahl, sexuelle Nötigung, Freiheitsberaubung und, last but not least, Vergewaltigung. Samira hatte recht mit ihrer Aussage, es grenze an ein Wunder, dass er noch niemanden umgebracht hatte … Dazu kam jetzt noch die Organisation von Hundekämpfen, sofern man den Indizien Glauben schenkte, die auf seinem Anwesen im Wald gefunden worden waren. In der Justizvollzugsanstalt Seysses waren mehrfach Disziplinarmaßnahmen gegen ihn verhängt worden. Während seiner Zeiten in Freiheit war er Geschäftsführer eines Sexshops in der Rue Denfert-Rochereau in Toulouse gewesen, Rausschmeißer in einem Privatklub in der Rue Maynard, Kellner in einem Café-Restaurant in der Rue Bayard – er verkehrte an praktisch allen zwielichtigen Orten dieses Viertels. Ein Detail machte Espérandieu stutzig: Offiziell hatte die „Karriere“ von Elvis im Alter von 22 Jahren mit einer ersten Verurteilung begonnen. Bis dahin war er so pfiffig gewesen, nicht ins Netz zu gehen, denn der Polizist war sich absolut sicher, dass Elvis bei einem solchen Lebenslauf sehr viel früher begonnen hatte, krumme Dinger zu drehen. Sein Blick fiel auf die letzte Akte, er öffnete sie und ließ seinen müden Blick über die Seiten gleiten, in der verwegenen Hoffnung, irgendetwas in all diesen Ergüssen würde seine Aufmerksamkeit erregen.
Sieh an, das ist allerdings interessant , sagte er sich mit dem typischen leichten Juckreiz, als er das letzte Blatt las.
Er hob den Hörer ab, um Martin anzurufen. Da stand
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