Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
waren. Elvis, der ihnen seinen Walkman lieh und ihnen Rockmusik vorspielte. Elvis, der den Jungs erklärte, wie man es mit den Mädchen anstellte, und der sie selbst heimlich begrapschte, weil sie mit zwölf schon wirkte wie sechzehn, der aber auch fuchsteufelswild werden und düstere Drohungen ausstoßen konnte. „Dir schneid ich den Schwanz ab und stopf ihn dir ins Maul, du Scheißkerl!“, hatte er eines Tages zu Hugo gesagt; warum, hatte sie vergessen. Sie bewunderten und fürchteten ihn zugleich. Sie wären gern gewesen wie er. Bis zu jener Nacht, in der sie festgestellt hatten, dass ihr Halbgott ein Feigling war.
Auch den Chef der Feuerwehr hatten sie nie vergessen. Er hatte seinen Männern verboten, in den Bus zu steigen – mit der Begründung, er drohe jeden Moment in den See zu stürzen – aber fast alle hatten sich dieser Anweisung widersetzt, und einer von ihnen hatte das mit seinem Leben bezahlt. Dem Ungehorsam dieser Feuerwehrleute verdankten sie es auch, dass sie den Kreis zu zehnt und nicht bloß zu zweit oder dritt hatten gründen können. Und dann war da noch der Fahrer, der nicht nur die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hatte, weil er mehr auf Claire Diemar als auf die Fahrbahn geachtet hatte, sondern sich auch als einer der ersten aus dem Staub gemacht hatte. Die einzige, die er gerettet hatte, war ausgerechnet dieses Mistluder gewesen. Bestimmt weil sie hübsch war, so wie er selbst recht gut aussah und nicht auf den Mund gefallen war, und weil sie auf der Fahrt diskret ein wenig geflirtet hatten.
„Wie hieß dieser Lehrer noch?“, fragte sie, ehe sie die Lippen an das Mundstück der Bong setzte und den abgekühlten Rauch in einem Zug inhalierte.
David warf ihr einen glasigen Blick zu. Er schien völlig weggepfiffen zu sein.
„Der mit der Brille!“, sagte Virginie. „Der, der uns gerettet hat. Der Frosch …“
„Nein, das war sein Spitzname. Erinnert sich denn keiner an seinen Vornamen?“
„Maxime“, sagte David mit belegter Stimme, während er die Pfeife nahm, die ihm Sarah hinhielt. „Er hieß Maxime Dubreuil.“
Ja. Jetzt erinnerte sie sich. Maxime, der so tat, als würde er während seines Unterrichts die Furze, die Pfiffe und das Lachen in seinem Rücken nicht hören. Maxime, der beim Reden ständig seine Brille auf der Nase hochschob. Maxime, der auf einem Auge blind war und der eines Tages, rot vor Wut, gebrüllt hatte: „Wer war das?“, als jemand an die Tafel geschrieben hatte: DUBREUIL DRÜCKT GERN EIN AUGE ZU … Maxime Dubreuil. Ein Held … Als ein Kran am nächsten Tag den Bus aus dem Wasser hob, wurde seine Leiche zusammen mit den anderen geborgen und seiner Familie übergeben. Sarah erinnerte sich an seine Mutter, die bei der Beisetzung in Tränen aufgelöst war, eine zerbrechliche kleine Frau mit weißer Mähne wie eine Haufenwolke. Sie hatte gezittert wie Espenlaub.
Hätte Maxime gutgeheißen, was sie später getan hatten? Ganz sicher nicht. Warum hatte sie mehr und mehr das Gefühl, dass sie sich verrannt hatten? Warum hatte sie den Eindruck, dass sie schlimmer geworden waren als die, die sie im Stich gelassen hatten?
„Wir müssen uns um diesen Bullen kümmern“, sagte David.
Es klang kraftlos, blutleer. Virginie sah ihn an, sagte aber ausnahmsweise nichts. Sie saßen in dieser verlassenen Kapelle mitten im Wald, etwa zweihundert Meter vom Gymnasium entfernt, wo sie regelmäßig hinkamen, um zu trinken, Pläne zu schmieden und Joints zu rauchen. Sie saßen auf der nackten Erde.
„Das übernehme ich“, fügte er nach einem Moment hinzu. Er reichte die Bong weiter, deren Wasser eine grünliche Farbe angenommen hatte.
„Was hast du vor?“
„Das werdet ihr schon sehen.“
Die Akte über den Vermisstenfall Joachim Campos hatte mit einem Anruf begonnen. Seine Freundin hatte ihn am Abend des 19. Juni 2008 im Restaurant La Pergola erwartet und sich über seine Verspätung zuerst gewundert, war dann aber in Panik ausgebrochen, als er nicht kam. In der Vermisstenanzeige stand, sie habe ihn im Lauf des Abends 23mal auf seinem Handy zu erreichen versucht, aber jedes Mal nur seinen Anrufbeantworter erwischt. Außerdem hatte sie nicht weniger als achtzehn besorgte, wütende, drohende, panische, flehende Nachrichten hinterlassen, was auf eine gewisse Unbeirrbarkeit hindeutete.
Als sie eine Stunde später das Restaurant verlassen hatte, war sie direkt zur Wohnung ihres Freundes gefahren, die etwa fünfzehn Kilometer entfernt war. Leer. Auch sein
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