Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
2010 in ihrer Badewanne ertränkt worden … Wie viele weitere Opfer würde es noch geben? Eines pro Jahr? Immer im Juni? Ein Detail passte nicht zum Rest: Elvis. Er passte nicht ins Schema. Er war nur wenige Tage nach Claires Ermordung selbst Opfer eines Mordanschlags geworden.
Hatte der, der hinter all dem steckte, beschlossen, die Sache zu beschleunigen? Warum? Hatten ihn die kriminalpolizeilichen Ermittlungen dazu veranlasst, Gas zu geben? Vielleicht hatte er es mit der Angst zu tun bekommen. Vielleicht hatte er erkannt, dass Elvis sie auf die eine oder andere Weise zu ihm führen könnte …
„Ruf im Krankenhaus an“, stieß Servaz hervor. „Frag sie, ob es eine Chance gibt, dass Elvis aus dem Koma aufwacht, damit wir ihn befragen können.“
„Nicht die geringste“, antwortete sein Mitarbeiter wie aus der Pistole geschossen. „Er ist gerade seinen Verletzungen erlegen. Das Krankenhaus hat vor ein paar Minuten angerufen.“
Servaz fluchte. Sie waren vom Pech verfolgt. Dabei waren sie dem Ziel ganz nahe, davon war er überzeugt.
„Ich will, dass du im Fall des Feuerwehrmanns, der von Obdachlosen in die Garonne geworfen wurde, den Namen des Zeugen herausfindest“, sagte er zu Pujol.
Er beendete das Gespräch und wandte sich Espérandieu zu, der am Steuer saß.
„Wir fahren nach Toulouse zurück. Und wir nehmen die Akte dieses Typen, Campos, genau unter die Lupe.“
„Ich kann nicht mehr.“
Sarah sah David an. Seine Stimme schien jeden Moment zu brechen, sie war so spröde und zittrig wie ein Spinnennetz, das im Raureif spröde geworden war. Sie fragte sich, ob er schon high war oder ob es etwas anderes war. Sie wusste, wie schwer seine Depression war. Oft sagte sie sich, der Unfall konnte höchstens der Auslöser gewesen sein, mit dem der schwarze Engel, der sich schon lange in Davids Psyche eingenistet hatte, seine Flügel hatte ausbreiten können. Sie wusste auch vom Ertrinken seines Bruders, auf den er aufpassen sollte, obwohl er selbst erst neun Jahre alt war. Sie wusste, was sein Vater und sein Bruder, diese Dreckskerle, ihm angetan hatten. Hugo und sie hatten oft darüber gesprochen. Hugo sagte, David sei wie eine Ente ohne Kopf. Hugo hatte David ins Herz geschlossen. Aber Davids Zuneigung zu Hugo war noch größer. Es war mehr als nur eine brüderliche Liebe. Es war ein Band, das sie nicht erklären konnte. Ein Band, das noch stärker, noch tiefer war als das, das sie alle einte.
Sarah war bei den ersten gewesen, die durch die Fenster des Busses am Hang ins Freie gelangt waren. Es war der tote junge Lehrer, der ihr durch das Fenster geholfen hatte; sie erinnerte sich noch an seine Verlegenheit und seine gestammelten Entschuldigungen, als er die Hände auf Sarahs Hintern gelegt hatte, um sie hinauszustoßen – ehe er zurückgegangen war, um eine ihrer Kameradinnen zu retten, die in einem schwer zugänglichen Bereich unter einem Sitz eingeklemmt war. Denn der Bus war nur noch ein Haufen verbeulter Schrott. Seltsamerweise erinnerte sie sich noch genau an das runde Gesicht und die genauso runden Brillengläser dieses jungen Lehrers (die Schüler verachteten ihn, weil er sich keinen Respekt zu verschaffen wusste; im Unterricht war er die Zielscheibe endloser Spötteleien, und Hugo konnte ihn ausgezeichnet nachäffen), aber sie erinnerte sich nicht mehr an seinen Namen. Dabei verdankte ihm Sarah ihr Leben, genauso wie David, genauso wie mehrere weitere Mitglieder des Kreises … Er war zusammen mit den anderen Opfern auf dem Grund des Sees geblieben … Den Namen dieser hübschen Lehrerin dagegen, die gerade frisch an die Schule gekommen war, von allen Schülern bewundert wurde und in die sich die meisten Jungs verknallt hatten, hatte sie nie vergessen. Dieses hübsche Miststück von Lehrerin, die sich als Erste in Sicherheit gebracht hatte, ohne sich umzusehen, auf allen Vieren, die hysterisch schrie und die Kinder ihrem Schicksal überließ. Taub für ihre Hilferufe. Claire Diemar. Keiner von ihnen hatte sie vergessen. Wie groß war ihre Überraschung gewesen, als sie ihr in der Khâgne in Marsac wiederbegegnet waren: Hugo, David, Virginie und sie. Sie erinnerte sich an ihre Blässe und ihre Verlegenheit, als sie die Namen aufgerufen und wiedererkannt hatte.
So wie sich Sarah all diese Jahre hindurch an diesen Aufseher mit dem witzigen Vornamen erinnert hatte, der aussah wie ein junger Ganove: Elvis Elmaz. Elvis, der sie dazu verleitete, heimlich zu rauchen, obwohl sie erst zwölf
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