Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Auto stand nicht auf dem Parkplatz.
Sie hatte in dieser Nacht sehr schlecht geschlafen. Den übereinstimmenden Aussagen sämtlicher befragter Zeugen zufolge war Joachim ein gutaussehender Mann, der gern flirtete, und sie war die ganze Nacht vor Angst schier umgekommen. Am nächsten Morgen hatte sie sich an ihrer Arbeitsstelle krank gemeldet und war an seiner aufgekreuzt. Joachim war nicht mehr Busfahrer. Er war zwar nicht angeklagt worden, aber sein Arbeitgeber hatte ihn ein halbes Jahr nach dem Unfall wegen einer anderen Verfehlung entlassen. Er war jetzt Lagerverwalter in einem Supermarkt. Der Job verschaffte ihm deutlich weniger Gelegenheiten, mit hübschen Unbekannten zu flirten. Im Supermarkt hatte man seiner Verlobten erklärt, Joachim sei an diesem Morgen nicht erschienen. Nachmittags hatte sie dann beschlossen, die Gendarmerie zu kontaktieren. Dort hatte man ihr gesagt, man könne nicht viel unternehmen. In Frankreich verschwanden jährlich 40.000 Personen. Neunzig Prozent davon tauchten innerhalb weniger Wochen wieder auf. Jeder Erwachsene hatte das Recht, ein neues Leben zu beginnen und umzuziehen, ohne seinen Verwandten oder Freunden seine neue Adresse mitzuteilen. Vor allem Männer – aber auch Frauen – taten das. Wäre ein Kind vermisst worden, hätten sie großangelegte Suchaktionen durchgeführt und Taucher mobilisiert, um die Seen in der Region abzusuchen. Aber ein verschwundener Erwachsener war nur eine weitere Zahl in den Statistiken. Um als „polizeilich relevant“ eingestuft zu werden, musste es sich bei dem Vermissten schon um einen Kranken oder einen Betreuten handeln, oder aber es mussten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Vermisste womöglich einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. In diesem Fall lag nichts dergleichen vor.
Aber wie die 53 weiteren Anrufe auf das Handy des Ex-Fahrers bezeugten, ließ Joachim Campos‘ Verlobte nicht so leicht locker. Hartnäckig bedrängte sie Gendarmerie und Polizei, und sie bekam, was sie sich wünschte, als sich unerwartet ein weiterer Zeuge meldete und aussagte, er habe am Abend, an dem Joachim verschwunden war, in einem alten grauen Mercedes jemanden gesehen, auf den die Personenbeschreibung passte - und zwar nur wenige Kilometer von dem Restaurant entfernt, in dem er mit seiner Verlobten verabredet war. Tatsächlich hatte der ehemalige Busfahrer einen grauen Mercedes, und das konnte der neue Zeuge nicht wissen. Laut Aussage desselben Zeugen saßen im Fahrzeug zwei weitere Personen.
„Alle wissen, dass Herr Campos schöne Frauen liebte“, hatten die Gendarmen mit einem schrägen Blick auf die (Ex-?)Verlobte erwidert.
„Es waren zwei Männer“, hatte der Zeuge klargestellt.
Der Fall wurde als „polizeilich relevant“ eingestuft. Aus undurchsichtigen verfahrensrechtlichen Gründen war er an die Polizei von Toulouse gekommen. Sie hatte nur das Allernötigste getan, und wie immer in diesen Fällen hatte der Staatsanwalt aus Mangel an stichhaltigen Hinweisen die Sache ad acta gelegt. Danach zählte Joachim Campos zu den statistischen drei Prozent dauerhaft Vermissten.
Servaz nahm nacheinander die einzelnen Seiten aus dem Aktenordner. Die Hälfte reichte er Espérandieu. Es war 14:28 Uhr.
Um 15:12 Uhr machte sich Servaz an den Einzelverbindungsnachweis von Joachim Campos‘ Handy. Der Apparat war nie gefunden worden, aber auf Antrag der Staatsanwaltschaft hatte seine Telefongesellschaft den Ermittlern die Liste der ein- und ausgehenden Anrufe ausgehändigt.
Eine Nummer kehrte sehr oft wieder, am Abend des Verschwindens und an den folgenden Tagen – und Servaz wusste, noch bevor er es überprüft hatte, dass es sich um die der hartnäckigen Verlobten handelte. Auch andere hatten im Lauf der folgenden Tage versucht, den Fahrer anzurufen: seine Schwester, seine Eltern, und eine Nummer, von der sich nach einigem Stöbern im Ermittlungsbericht herausstellte, dass sie einer verheirateten jungen Frau und Mutter zweier Kleinkinder gehörte, die seit mehreren Monaten eine Affäre mit Joachim hatte.
Um 15:28 Uhr überprüfte Servaz die Lokalisierung der letzten aus- und eingehenden Anrufe von Joachim Campos, also die Sendemasten, die sein Handy in den Stunden unmittelbar vor und nach seinem Verschwinden beim Vorüberfahren aktiviert hatte. Auf diese Weise ließe sich vielleicht ein Bewegungsprofil erstellen.
Die Verlobte , dachte er plötzlich.
Servaz starrte auf eine Zeile, die einem der zahllosen Anrufe entsprach, die sie in ihrer
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