Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
zu sagen. Auch wirkte er für seine gerade erst achtzehn Jahre ungewöhnlich reif. Servaz fuhr behutsam fort.
„Warum willst du nicht reden? Ist dir klar, dass du dich dadurch nur noch stärker belastest? Sollen wir einen Anwalt rufen? Du berätst dich mit ihm, anschließend reden wir.“
„Wozu? Ich war am Tatort, als sie umgebracht wurde, oder jedenfalls kurze Zeit später … Ich habe kein Alibi … Alles spricht gegen mich … Also habe ich es getan, oder?“
„Stimmt das denn?“
Hugo sah ihn mit seinen blauen Augen fest an. Servaz las darin weder Schuld noch Unschuld. Diese Augen drückten nur eine Art Erwartung aus.
„Jedenfalls sind Sie davon überzeugt … Was macht es dann schon, ob es stimmt oder nicht?“
„Einen großen Unterschied“, sagte Servaz #und schob den Gedanken an die Reihen von Justizirrtümern in Frankreich von sich. „Du hast deine Mutter angerufen, um ihr zu sagen, dass du in diesem Haus aufgewacht bist und dass dort eine tote Frau liegt, richtig?“
„Ja.“
„Wo warst du, als du aufgewacht bist?“
„Im Wohnzimmer, im Erdgeschoss.“
„Wo genau im Wohnzimmer?“
„Ich saß auf dem Sofa.“
Hugo sah Bécker an.
„Das habe ich denen schon gesagt.“
„Und was hast du dann gemacht?“
„Ich habe nach Mademoiselle Diemar gerufen.“
„Bist du sitzen geblieben?“
„Nein. Die Fenstertüren zum Garten standen offen. Es regnete herein. Ich bin aufgestanden und rausgegangen.“
„Hast du dich nicht gefragt, wo du bist?“
„Ich habe das Haus wiedererkannt.“
„Warst du schon einmal da?“
„Ja.“
„Öfter?“
„Ziemlich oft.“
„Was heißt das genau? Wie oft?“
„Ich erinnere mich nicht mehr …“
„Versuch´s!“
„Ich weiß es nicht … vielleicht zehn … oder zwanzig Mal.“
„Warum hast du Mademoiselle Diemar so oft besucht? Wieso hast du sie ständig angerufen? Hat sie alle Schüler von Marsac in ihrem Haus empfangen?“
„Nein, ich glaube nicht.“
„Und warum dich? Worüber habt ihr gesprochen?“
„Über das, was ich schreibe.“
„Wie bitte?“
„Ich schreibe einen Roman … Ich habe Clai… Mademoiselle Diemar davon erzählt. Sie war sehr interessiert. Sie hat mich gefragt, ob sie es lesen dürfte. Wir haben regelmäßig darüber gesprochen. Auch am Telefon …“
Servaz sah Hugo an. Ein Schauder durchrieselte ihn. Auch er hatte als Schüler in Marsac einen Roman in Angriff genommen. Der große moderne Roman … Der Traum vom Ruhm jedes angehenden Schriftstellers … Am Tag nach dem Selbstmord seines Vaters hatte er aufgehört zu schreiben.
„Du hast sie Claire genannt?“, fragte er.
Ein Zögern.
„Ja.“
„Was für eine Beziehung hattet ihr?“
„Das habe ich gerade gesagt. Sie interessierte sich für meine Texte.“
„Sie hat dir Ratschläge gegeben?“
„Ja.“
„Und fand sie es gut?“
Hugos Augen funkelten stolz.
„Sie sagte … sie sagte, dass sie seit langem nichts Vergleichbares gelesen hat.“
„Darf ich den Titel erfahren?“
Nach kurzem Zögern sagte Hugo:
„‚Der Kreis‘ …“
Servaz hätte ihn gern gefragt, worum es in dem Roman ging, ließ es dann aber sein. #Der Junge erinnerte ihn so an sich selbst vor 23 Jahren. Aber konnte er die einzige Person, die seine schriftstellerische Arbeit verstand und schätzte, umgebracht haben?
„Was hast du gemacht, nachdem du im Garten warst?“
„Ich bin ins Haus gegangen. Ich habe sie gerufen. Ich habe überall herumgesucht.“
„Hast du nicht daran gedacht, die Polizei zu rufen?“
„Nein.“
„Und dann?“
„Ich bin nach oben gegangen, habe nacheinander alle Zimmer durchsucht. Bis ich schließlich im Bad gelandet bin … Und da … habe ich sie gesehen .“
Sein Adamsapfel trat hervor und wieder zurück.
„Da war ich völlig panisch … Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hab versucht, ihren Kopf aus dem Wasser zu ziehen, ich hab sie geohrfeigt, um sie aufzuwecken, ich hab geschrien, ich hab versucht, die Knoten aufzumachen. Aber es waren zu viele und sie waren zu fest geschnürt. Außerdem waren sie im Wasser aufgequollen. Mir war schnell klar, dass es zu spät war …“
„Du sagst, du hast versucht, sie wiederzubeleben?“
„Ja, das habe ich.“
„Und die Lampe?“
Servaz sah, wie Hugo kaum merklich blinzelte.
„Du hast doch bestimmt die eingeschaltete Lampe in ihrem Mund gesehen, oder?“
„Ja, natürlich …“
„Warum hast du dann nicht versucht, sie rauszunehmen? “
Hugo zögerte.
„Ich
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