Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
ab.“
„Um diese Uhrzeit? Es ist zwei Uhr morgens!“
„Dann holt sie halt aus den Betten. Ich will eine Antwort, ehe wir wieder nach Toulouse zurückkehren. Hat jemand irgendetwas gesehen oder gehört? Ist jemandem etwas aufgefallen, letzte Nacht oder in den letzten Tagen, irgendetwas Verdächtiges, irgendetwas Seltsames, die kleinste Kleinigkeit – selbst wenn es scheinbar nichts mit dem zu tun hat, was heute Abend passiert ist.“
Er begegnete ihren ungläubigen Blicken.
„An die Arbeit.“
7
Margot
Sie fuhren durch die Hügellandschaft. Vergangenen September. Es war noch warm; um sie herum war Sommer, und da die Klimaanlage defekt war, hatte Servaz die Scheiben heruntergelassen. Er hatte eine CD mit Musik von Mahler eingelegt, und er war bester Laune. Nicht nur war sehr schönes Wetter, er war auch in Gesellschaft seiner Tochter unterwegs, und er brachte sie an einen Ort, den er gut kannte – auch wenn er schon seit langem nicht mehr hier gewesen war.
Auf der Fahrt dachte er daran, wie mittelmäßig Margot in der Grundschule gewesen war. Dann kam die Pubertät. Noch heute sah seine Tochter mit ihren Piercings, ihren bizarr gefärbten Haaren und ihren Lederjacken absolut nicht aus wie eine Klassenbeste. Dennoch wusste er sehr wohl, dass Margot, die kleine Punkerin, sehr gute Noten hatte. Aber Marsac war die beste Khâgne in der Region. Die anspruchsvollste. Man musste hervorragende schulische Leistungen bringen, um dort aufgenommen zu werden. Servaz selbst hatte sie vor 23 Jahren besucht – als er noch Schriftsteller werden wollte. Stattdessen war er Polizist geworden. Während er an diesem Morgen durch die sommerliche Landschaft fuhr, blähte ihn sein Stolz auf wie eine Seifenblase.
„Es ist schön hier“, sagte Margot und zog die Kopfhörer aus den Ohren.
Servaz warf einen kurzen Blick in die Umgebung. Die Straße schlängelte sich zwischen sattgrünen Hügeln hindurch, durchquerte von der Sonne beschienene Wälder und goldblonde, seidige Getreidefelder. Sobald er an einer Kurve abbremste, hörte er durch die heruntergelassene Scheibe den Gesang der Vögel und das Surren der Insekten.
„Ein bisschen langweilig, oder?“
„Hm. Und wie ist Marsac so?“
„Eine Kleinstadt. Ruhig. Ich vermute mal, dass es noch immer dieselben Studentenkneipen gibt. Warum hast du dich für Marsac und nicht für Toulouse entschieden?“
„Wegen Van Acker. Dem Französischlehrer.“
Noch nach all dieser Zeit löste der Name Van Acker in ihm eine Art Stromschlag aus, der eine Zone in seinem Herz stimulierte, die seit langem inaktiv war. Dennoch versuchte er, in einem möglichst gleichgültigen Tonfall zu sprechen.
„Ist er wirklich so gut?“
„Der Beste im Umkreis von 500 Kilometern.“
Margot wusste, was sie wollte. Kein Zweifel. Er erinnerte sich wieder an die Worte des verheirateten Liebhabers seiner Tochter, als er ihm wenige Tage vor Weihnachten auf der Place du Capitole zum einzigen Mal begegnet war: „Hinter ihrem rebellischen Äußeren verbirgt sich eine wunderbare, brillante und unabhängige junge Frau. Sie ist viel reifer, als Sie es zu glauben scheinen.“ Eine anstrengende, gereizte Unterhaltung, die von gegenseitigen Vorwürfen geprägt war – die ihm aber schließlich bewusst gemacht hatte, dass er seine eigene Tochter kaum kannte.
„Du hättest dich etwas ansprechender kleiden können.“
„Warum? Sie interessieren sich für mein Gehirn, nicht für meine Klamotten.“
Typisch Margot … Allerdings war fraglich, ob sich auch der Lehrkörper von diesem Argument überzeugen ließ. Sie fuhren durch den großen Wald von Marsac mit seinen Kilometern von Reit- und Fußwegen. Anschließend waren sie durch die schnurgerade Platanenallee, die Servaz in seiner Jugend Hunderte Male entlanggeradelt war, in die Stadt gefahren.
„Macht es dir nichts aus, von Montag bis Samstag im Internat zu sein?“, fragte er, als sie durch die Gassen fuhren, die von Cafés und Boutiquen gesäumt wurden.
„Ich weiß es nicht.“ Sie blickte durch die heruntergelassene Scheibe. „Ich habe mir noch keine großen Gedanken darüber gemacht. Ich vermute, dass ich hier interessante Leute kennenlernen werde, etwas anderes als diese Dumpfbacken auf dem Gymnasium. Wie war das zu deiner Zeit?“
Die Frage traf ihn unvorbereitet. Er hatte keine Lust darüber zu sprechen.
„Es war gut“, antwortete er.
Auf den Straßen waren viele Fahrräder unterwegs, auf denen meistens Studenten saßen, aber auch einige
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