Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
um.
„Bring ihm einen Kaffee und ein Glas Wasser.“
Espérandieu stand auf. Servaz musterte den jungen Mann. Er hielt die Augen niedergeschlagen und hatte in einer unverkennbar defensiven Geste die Hände zwischen die Knie geklemmt; durch ein Loch in seiner Jeans sah man seine gebräunten Beine.
Er hat eine Höllenangst.
Er war schlank, hatte ein hübsches Gesicht, das bestimmt den Mädchen gefiel, und Haare, die so kurz geschnitten waren, dass sie einen hellen, seidigen Flaum auf seinem runden Schädel bildeten, der im Licht der Neonröhren glänzte. Dreitagebart. Er trug ein T-Shirt mit dem englischsprachigen Wappen einer amerikanischen Universität.
„Bist du dir im Klaren darüber, dass alle äußeren Anzeichen gegen dich sprechen? Du wurdest an dem Abend, an dem Claire Diemar in ihrem Haus Opfer eines bestialischen Verbrechens wurde, dort vorgefunden. Nach dem mir vorliegenden Bericht hast du zu diesem Zeitpunkt unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen gestanden.“
Er starrte den jungen Mann an. Dieser rührte sich nicht. Vielleicht stand er noch immer unter Drogeneinfluss. Vielleicht war er einfach noch nicht wieder heruntergekommen.
„Deine Fußabdrücke wurden überall im Haus gefunden …“
„…“
„Lehm- und Grasspuren, die von deinen Schuhen stammen, nachdem du im Garten gewesen bist.“
„…“
Servaz warf Bécker einen fragenden Blick zu. Dieser antwortete mit einem Achselzucken.
„Die gleichen Spuren auf der Treppe und im Bad, in dem Claire Diemar tot aufgefunden wurde …“
„…“
„Dein Handy beweist, dass du das Opfer allein im Lauf der letzten beiden Wochen achtzehnmal angerufen hast.“
„…“
„Worüber hast du mir gesprochen? Wir wissen, dass sie deine Lehrerin war … Mochtest du sie als Lehrerin?“
Keine Antwort.
Mist, aus dem ist nichts rauszukriegen.
Flüchtig dachte er an Marianne: Alles sprach für ihren Sohn als Täter. Einen Moment lang zog er in Erwägung, sie anzurufen, um sie zu bitten, ihren Sohn zur Kooperation zu bewegen.
„Was hast du bei Claire Diemar gemacht?“
„…“
„Verdammt, bist du taub, oder was? Siehst du nicht, in was für ´ner Scheiße du steckst?!“
Samiras Stimme. Aus heiterem Himmel. Schroff und schrill wie eine Säge. Hugo fuhr zusammen. Er blickte auf und wirkte einen Moment lang verunsichert, als er den großen Mund, die hervortretenden Augen und die kleine Nase der Französin mit chinesisch-marokkanischen Vorfahren erblickte. Zu allem Übel neigte sie auch noch dazu, Unmengen von Mascara und Lidschatten aufzulegen. Aber diese Überraschungsreaktion währte nur einen Sekundenbruchteil. Dann schlug Hugo seinen Blick auch schon wieder auf seine Knie nieder.
Draußen der Gewittersturm, drinnen Schweigen. Niemand schien es brechen zu wollen.
Servaz wechselte einen Blick mit Samira.
„Ich bin nicht hier, um dich zu belasten“, sagte er schließlich. „Wir wollen lediglich die Wahrheit herausfinden. Amicus mihi Plato, sed magis amica veritas . Platon ist mir lieb, aber noch lieber ist mir die Wahrheit.“
War es der lateinische Spruch?
Diesmal zeigte sich jedenfalls eine Reaktion.
Hugo sah ihn an …
Tiefblaue Augen. Die Augen seiner Mutter , dachte Servaz, obwohl ihre grün waren. Im Übrigen erkannte er auch im Schwung der Lippen und der Form des Gesichts Marianne wieder. Diese starke Ähnlichkeit irritierte ihn.
„Ich habe mit deiner Mutter gesprochen“, sagte er plötzlich ohne nachzudenken. „Wir waren früher einmal miteinander befreundet. Sehr eng befreundet.“
„…“
„Ehe sie deinen Vater kennengelernt hat …“
„Sie hat mir nie von Ihnen erzählt.“
Der erste Satz, den Hugo Bokhanowsky aussprach, kam wie ein Fallbeil. Servaz hatte das Gefühl, einen Faustschlag in die Magengrube zu kassieren.
Er wusste, dass Hugo die Wahrheit sagte.
Er räusperte sich.
„Auch ich bin in Marsac aufs Gymnasium gegangen“, sagte er. „Wie du. Und heute geht meine Tochter dort zur Schule. Margot Servaz. Sie ist im ersten Jahr Khâgne.“
Jetzt war der junge Mann plötzlich ganz Ohr.
„Margot ist Ihre Tochter?“
„Kennst du sie?“
Der junge Mann zuckte mit den Schultern.
„Wer kennt Margot nicht? Sie fällt auf in Marsac … Margot ist schwer in Ordnung … Sie hat uns nicht gesagt, dass ihr Vater Polizist ist.“
Hugo hatte seine blauen Augen fest auf Servaz gerichtet. Der Polizist merkte, dass er sich geirrt hatte: Der Junge hatte keine Angst, er hatte lediglich beschlossen, nichts
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