Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Er will es also nicht selbst gefahren haben? Einmal angenommen, es wäre jemand anderes gewesen. Er sagt, er wäre im Haus zu sich gekommen. Der wahre Mörder wäre dann das Risiko eingegangen, Hugo aus dem Auto herauszuholen und ihn bis zu Claires Haus zu schleppen. Und niemand hätte irgendetwas gesehen? Das ist doch unglaubwürdig. Mehrere Häuser gehen auf die Straße, unter anderem drei Reihenhäuser, direkt gegenüber vom Haus des Opfers …“
„Alle haben Fußball geschaut“, wandte Servaz ein. „Sogar wir.“
„Nicht alle: Der Alte gegenüber hat ihn gesehen.“
„Aber er gerade nicht, wie er reingekommen ist. Niemand hat ihn ins Haus gehen sehen. Warum soll er dort gewartet haben, bis man ihn schnappt, wenn er der Täter ist?“
„Du kennst die Statistiken genauso gut wie wir“, antwortete Samira. „In 15 Prozent der Fälle stellt sich der Täter der Polizei, in 5 Prozent verständigt er einen Dritten, der die Polizei ruft, und in 38 Prozent wartet er in aller Ruhe am Tatort auf das Eintreffen der Polizei, weil er weiß, dass sie von einem Zeugen alarmiert wurde. Genau das hat auch der Junge getan. Fast zwei Drittel aller Fälle werden schon in den ersten Stunden aufgrund des Verhaltens des Verbrechers aufgeklärt.“
Servaz kannte die Zahlen.
„Ja, aber sie behaupten anschließend nicht, unschuldig zu sein.“
„Er war high. Als er allmählich wieder runterkam, wurde ihm bewusst, was er getan hat und was für eine Strafe ihm blüht“, sagte Espérandieu. „Er will einfach seine Haut retten.“
„Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, ob es sich um eine vorsätzliche Tat handelte“, sagte Samira.
Seine beiden Mitarbeiter starrten ihn an, sie erwarteten eine Reaktion von ihm.
„Aber das Verbrechen wurde inszeniert, und zwar auf eine sehr ungewöhnliche Art und Weise, oder nicht?“, antwortete er. „Die Seile, die Lampe, die Puppen … Nichts von all dem spricht für ein gewöhnliches Verbrechen … Wir sollten uns vor vorschnellen Schlussfolgerungen hüten.“
„Der Junge war auf dem Trip“, sagte Samira achselzuckend. "Er war wahrscheinlich nicht bei Sinnen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Kiffer ausrastet … Ich trau ihm nicht über den Weg, diesem Jungen … Alles spricht gegen ihn, oder? Verdammt, Chef, … unter allen anderen Umständen würden Sie dasselbe daraus schließen wie wir.“
Er zuckte zusammen.
„Was soll das heißen?“
„Sie haben es selbst gesagt: Sie haben seine Mutter gut gekannt. Und sie hat einen Notruf abgesetzt, wenn ich mich nicht irre.“
Irgendetwas sträubte sich in Servaz, die Anspielung ärgerte ihn. Es gab immerhin eine Reihe auffälliger Details. Die Inszenierung, die Lampe, die Puppen …, dachte er. Und auch das Timing … Irgendetwas an der Wahl des Zeitpunkts störte ihn. Wenn der Junge ausgerastet war, wieso dann ausgerechnet an diesem Abend, wo alle Fernsehen schauten?
Reiner Zufall? In seiner sechzehnjährigen Berufserfahrung hatte Servaz gelernt, dieses Wort aus seinem Vokabular zu streichen. Hugo war Fußballfan. Würde sich jemand, der sich gern Liveübertragungen von Sportveranstaltungen ansieht, gerade diesen Abend aussuchen, um jemanden umzubringen? Nur wenn er der allgemeinen Aufmerksamkeit entgehen will … Aber Hugo war an Ort und Stelle geblieben und hatte sich festnehmen lassen, ohne zu versuchen, sich zu verstecken.
„Diese Ermittlungen sind abgeschlossen, noch ehe sie richtig begonnen haben“, folgerte Samira und ließ ihre Finger knacken.
Mit einer Geste brachte er sie zum Schweigen.
„Noch nicht ganz. Geht mal nachsehen, ob die Techniker Hugos Wagen gründlich untersucht haben, sie sollen ihn auch mit Cyanoacrylat besprühen.“
Er hätte gern eine Kabine gehabt, um das Innere und Äußere des Wagens genau unter die Lupe zu nehmen. Eine Lackierkabine wie in einer Karosseriewerkstatt, mit einer Vorrichtung zum Verdampfen von Cyanoacrylat – einer Art Superkleber. Bei Kontakt mit den Fettspuren, die die Finger hinterlassen, reagieren Cyanoacrylat-Dämpfe und bringen Fingerabdrücke als weiße Spuren zum Vorschein. Leider war im Umkreis von über fünfhundert Kilometern keine derartige Kabine verfügbar, und die Techniker mussten sich mit „Cyano-Shots“ begnügen – tragbaren Bedampfungsgeräten. Der heftige Regen hatte wahrscheinlich sowieso sämtliche Spuren an der Karosserie beseitigt.
„Anschließend befragt ihr die Anwohner. Klappert nacheinander sämtliche Häuser in der Straße
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