Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
und er strich sich über seinen tropfnassen dunklen Spitzbart, ein Lächeln auf den Lippen, während seine Augen im Halbdunkel funkelten.
Er war ihnen bis zu dieser zerfallenen Kapelle gefolgt, in der sie sich offensichtlich regelmäßig trafen. Er hatte sich im Dickicht versteckt. Durch das Fenster, dessen Buntglasscheibe schon längst verschwunden war, hatte er sie schwadronieren gehört, während sie an ihrer Wasserpfeife zogen. Er musste zugeben, dass sie deutlich interessanter waren als der Durchschnitt ihrer Altersgenossen, als all diese halbgebildeten jungen Primaten. Jetzt verstand er besser, wie Martin zu dem geworden war, der er war. Die Erwachsenen, die diese Einrichtung heranbildete, waren äußerst vielversprechend. Er stellte sich eine Verbrecherschule vor, die ihre Schüler in ähnlicher Weise ausbildete. Er hätte dort unterrichten können, sagte er sich, und sein Lächeln wurde breiter.
Im Regen kauerte er in den Büschen und beobachtete die jungen Leute, als sie aus der Kapelle traten und durch den Wald zurück zur Schule gingen. Alle trugen Kapuzen unter ihren Regenjacken. In aller Ruhe schlich er sich in das verlassene kleine Gebäude. Das Kruzifix und alle anderen rituellen Objekte waren seit langem verschwunden. Der Boden der Ruine war übersät von Bierdosen, leeren Cola-Flaschen, Verpackungen von Appetitzüglern und Zeitschriftenseiten voller Werbeanzeigen – den primitiven Symbolen jener anderen, heute vorherrschenden sterilen Religion: des Massenkonsums.
Hirtmann war nicht gläubig, aber er musste zugeben, dass einige Religionen, insbesondere die christliche und die muslimische, im Hinblick auf Folter und Grausamkeit alle anderen übertroffen hatten. Gern hätte er selbst die kunstvollen Werkzeuge angewandt, die geniale mittelalterliche Erfinder – seine Geistesbrüder - entsonnen hatten, die damals ungehindert ihren Einfallsreichtum in aller Ruhe entfalten konnten. Er hätte mit der gleichen Beredtsamkeit gepredigt, die er früher in den Gerichtssälen benutzte, um Typen hinter Schloss und Riegel zu bringen, deren Unschuld alles andere als erwiesen war. Gegenwärtig traf er Vorbereitungen, Richter und Henker gleichzeitig zu sein. Er würde auf seine Weise den schönen alten Streich vom „begossenen Gärtner“ wiederholen.
Zuerst hatte er geglaubt, der Usurpator, der es gewagt hatte, seinen Platz einzunehmen und sich für ihn auszugeben, wäre unter diesen jungen Leuten. Aber nach ein bisschen Belauschen und ein wenig Herumschnüffeln hatte er seinen Fehler eingesehen. Und die Ironie der Situation war ihm in ihrer ganzen Grausamkeit aufgegangen. Armer Martin … Er hatte schon so sehr gelitten. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben spürte Hirtmann, wie sich in ihm so etwas wie Mitgefühl und Kameradschaft regte. Das trieb ihm beinahe die Tränen in die Augen. Dass Martin diese Wirkung auf ihn hatte, überraschte ihn noch selbst. Und es war eine köstliche, eine wunderbare Überraschung. Martin, mein Freund, mein Bruder … , dachte er. Er würde den Schuldigen hart bestrafen. Denn sein Verbrechen war ein doppeltes: Es gab zwei Opfer. Er würde ihm seine Verbrechen, die Majestätsbeleidigung wie den Verrat, büßen lassen. Eine Strafe, die seinem Körper wie seiner Seele für immer eingebrannt wäre.
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Krankenhaus
„Retinale Blutung“, sagte der Arzt. „Boyle’sches Gesetz, p 1 x V 1 = p 2 x V 2 , bei verändertem Druck eines Gases verändert sich proportional auch sein Volumen: Wie alle Gase unterlag auch die Luft in Ihrer Maske Druckveränderungen. Unter der Wirkung dieser Druckveränderungen hat sich die Luft verdichtet, als Sie nach unten getaucht sind, und sie hat sich ausgedehnt, als Sie nach oben gestiegen sind. Sie haben ein sogenanntes Barotrauma erlitten: Darunter versteht man Gesundheitsstörungen aufgrund allzu jäher Änderungen des Umgebungsdrucks. Ich weiß nicht, was da unten passiert ist, aber der völlige Verlust des binokularen Sehens ist eher selten. Selbst vorübergehend. Aber seien Sie unbesorgt, Sie werden nicht dauerhaft blind bleiben.“
Super , dachte Servaz. Konntest du das nicht früher sagen!
Die tiefe, bedächtige Stimme des Arztes und sein belehrender Tonfall brachten ihn auf die Palme. Hätte er ihn sehen können, wäre es vermutlich ähnlich gewesen.
„Es kann eine gewisse Zeit dauern, bis die Blutung abklingt“, fuhr die Stimme schulmeisterlich fort. „Die Makula ist betroffen, die Zone des schärfsten Sehens der Retina. Ich
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