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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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der gelben Fassade des billigen Gebäudes im Stadtzentrum emporblicke, sah sie, dass in den Fenstern im obersten Stockwerk Licht brannte. Sofort war ihr Jagdinstinkt geweckt. Adrenalin schoss durch ihre Adern. Sie war schon lange nicht mehr auf der Jagd gewesen – einer echten Jagd, die Gefühle in ihr hervorrief, die ihr selbst der Sex oder das Motorrad nicht verschaffen konnten. Sie parkte auf dem Gehsteig, setzte den Helm ab, strich sich ihre tropfnassen blonden Haare glatt und ging zur Tür. Es gab weder Sprechanlage noch elektrischen Türschließer, und sie stieg die quietschende Treppe bis ganz oben, wobei sie feuchte Spuren auf den Stufen hinterließ. Sie drückte die Klingel und wartete.
    „Ja?“, antwortete eine Stimme nach etwa zwanzig Sekunden.
    „Herr Jovanovic?“
    „Hmm …“
    „Ich heiße Irène Ziegler, und ich würde gern Ihre Dienste in Anspruch nehmen.“
    „Es ist geschlossen. Kommen Sie am Montag wieder.“
    „Ich möchte meinen Ehemann beschatten lassen. Ich weiß, dass Sie keine festen Honorarsätze haben, aber ich bin bereit, mir das etwas kosten zu lassen. Geben Sie mir eine Viertelstunde, bitte.“
    Ein paar Sekunden lang drang nur das Rauschen der Sprechanlage durch die Stille – dann summte der Türöffner, und sie musste leicht gegen die Tür drücken, bis sie nachgab. Sie betrat die winzige Wohnung, die unangenehm nach kaltem Rauch roch. Aus einer Tür, die am Ende des Gangs einen Spaltbreit offenstand, fiel Licht. Sie ging dorthin und schob sie auf. Zlatan Jovanovic schloss gerade Dokumente in einen Safe ein. Ein altes Fabrikat, nicht viel widerstandsfähiger als ein gewöhnlicher Wandschrank. Sie begriff, dass der Safe nur da war, um seine Kunden zu beeindrucken. Sein kleiner Trick. Das machte er bestimmt bei jedem neuen Klienten: Die Nummer mit den Dokumenten, die er in den Safe legte. Die wichtigen Dokumente mussten irgendwo anders lagern; wahrscheinlich virtuell im verschlüsselten Speicher eines Computers. Er machte die schwere Tür wieder zu und drehte den Schließzylinder. Dann ließ er sich in seinen Chefsessel fallen.
    „Ich höre.“
    „Nicht schlecht, der Trick mit dem Tresor. Das macht was her.“
    „Wie bitte?“
    „Ein bisschen alt, dieses Modell, oder? Ich kenne mindestens zwanzig Leute, die ihn mit verbundenen Augen und einer im Rücken gefesselten Hand aufkriegen würden.“
    Sie sah, wie der Mann die Augen zusammenkniff.
    „Sie sind nicht wegen eines untreuen Ehemanns hier, habe ich recht?“
    „Bingo.“
    „Wer sind Sie?“
    „Drissa Kanté, sagt Ihnen das etwas?“
    „Nie gehört.“
    Er log. Eine kaum merkliche Verengung der Pupillen. Trotz seines ostentativen Pokerface hatte ihn der Name wie eine Ohrfeige getroffen.
    „Hör zu, Zlatan – du erlaubst doch, dass ich dich Zlatan nenne –, ich hab nicht viel Zeit … Von daher können wir vielleicht gleich zur Sache kommen …“
    Sie zog einen USB-Stick aus ihrer Tasche und schob ihn auf dem Schreibtisch zu ihm hinüber.
    „War der Stick, den du Kanté gegeben hast, so einer wie dieser?“
    Er sah sie nicht an. Er starrte sie an.
    „Ich wiederhole meine Frage: Wer sind Sie?“
    „Die, die dich in den Knast bringt, wenn du nicht auf meine Fragen antwortest.“
    „Meine Tätigkeit ist legal, ich bin bei der Präfektur angemeldet.“
    „Spionageprogramme auf den Computern der Polizei installieren zu lassen – ist das legal?“
    Wieder merkte sie, dass ihn die Äußerung getroffen hatte. Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Er musste ein sehr guter Pokerspieler sein.
    „Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“
    „Fünf Jahre Knast: Die blühen dir. Ich werde eine Gegenüberstellung verlangen. Wir werden sehen, ob Kanté dich identifiziert. Und außerdem haben wir einen Zeugen: Eine Freundin von ihm ist dir gefolgt und hat das Kennzeichen deines Autos aufgeschrieben. Ganz zu schweigen vom Wirt der Kneipe, der dich mehrmals mit ihm gesehen hat … Das ist eine ganze Menge, oder? Du weißt, was dir blüht? Der Untersuchungsrichter wird deine Inhaftierung beantragen, und der Haftrichter wird darüber entscheiden. Dazu genügen ihm zehn Sekunden und ein Blick in deine Akte. Glaub mir, bei diesen stichhaltigen Beweisen zögert er keine Sekunde. Du kommst hundertprozentig in Untersuchungshaft …“
    Er rutschte nervös auf seinem Stuhl herum und sah sie mit finsteren Augen an. Trotz seines aufgeblasenen Getues erkannte sie darin ein vertrautes Leuchten: Angst.
    „Du scheinst plötzlich einen

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