Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
versuchte er zunächst links, dann rechts vorbeizukommen, aber wieder stieß er gegen harte, steife Wurzeln. Sie waren überall! Er war gefangen in diesem Gewirr, das er von ferne gesehen hatte, nur einige Meter von der Oberfläche entfernt! Seine Tauchlampe musste defekt sein, denn er sah nur noch ein hell schimmerndes Grau weiter oben, während es weiter untern stockfinster war und er in dem unentwirrbaren, dunklen Wurzelgeflecht festsaß. Er spürte, dass er allmählich den Kopf verlor, nicht mehr klar denken konnte. Er schaffte es einfach nicht, umzukehren oder wieder abzusteigen. Er musste unbedingt einen Ausweg nach oben finden.
Und zwar jetzt!
Plötzlich wurde das Mundstück seines Atemreglers aus seinem Mund gerissen. Panisch tastete er um sich, fand es wieder und zog daran – aber das Druckventil blieb zwischen Zweigen oder Wurzeln hängen! Er drückte seinen Mund darauf und sog gierig den Sauerstoff ein. Wieder warf er sich heftig hin und her, und der Atemregler entglitt ihm noch einmal. Irgendetwas stimmte nicht … Mit seiner Flasche war der Atemregler noch immer verbunden. Wie konnte er da zwischen den Wurzeln klemmen? Er führte ihn zum Mund, atmete wieder und versuchte verzweifelt, ihn frei zu bekommen, indem er ihn heftig hin und her bewegte. Nichts zu machen … Die Panik machte ihn blind. Er hörte das Knistern der Bläschen um ihn herum, ein Symptom seiner Panik.
Keine Minute länger wollte er in diesem Wasser bleiben, das ihn in so eine Falle gelockt hatte. Er schnallte die Gurte seiner Flasche auf. Warf sich heftig hin und her, um sich von seinem Geschirr zu befreien. Holte am Atemregler ein letztes Mal tief Luft.
Dann packte er die Wurzeln und schüttelte sie in alle Richtungen, aber im Wasser fehlte es ihm an Kraft. Er schlug mit den Flossen, zog, stemmte sich gegen das Gewirr. Trat mit den Beinen. Ein dumpfes Knacken. Blind bahnte er sich einen Weg nach oben, schlüpfte in ein Mauseloch, stieg weiter … stieß an … schüttelte sich … kroch … schlug heftig um sich … stieß wieder an … befreite sich … stieg … stieg … stieg …
Der Regen kam von Westen. Wie eine Armee fiel er über das Gebiet her. Nachdem eine Vorhut seine Ankunft mit heftigen Windstößen und Blitzen angekündigt hatte, brach er über die Wälder und Straßen herein. Kein gewöhnlicher Regen. Eine Sintflut, die vom Himmel niederging. Er fegte über die Dächer und Straßen von Marsac hinweg, ließ rasch die Rinnsteine überlaufen und peitschte den Stein der alten Fassaden, ehe er seinen Weg quer übers Land fortsetzte. Er überschwemmte die Hügel, die unter diesem schweren, flüssigen Leichentuch versanken, und spickte die Oberfläche des Sees mit kleinen Pfeilspitzen, als Servaz‘ Kopf durch die ufernahe Totholzchicht tauchte.
Wie ein Saugnapf haftete die Maske an seinem Gesicht. Er musste kräftig ziehen, um sie abzureißen, und ihm war, als würde er seine Wangen mit herausrupfen. Er riss den Mund weit auf, um in gierigen Zügen die Luft einzusaugen. Er ließ sich den Regen auf die Zunge tropfen. Er sah sich nach allen Seiten um, und die Panik kehrte wieder. Wie spät war es? Wie viel Zeit hatten sie dort unten verbracht, dass es schon so dunkel war? Er hörte, wie neben ihm Ziegler die Oberfläche durchstieß. Sie packte ihn an den Schultern.
„Was ist passiert? WAS IST PASSIERT?“
Er antwortete nicht. Mit weit aufgerissenen Augen drehte er den Kopf nach rechts und nach links, die Maske saß auf seiner Stirn. Der Regen prasselte auf seinen Neoprenanzug. Er hörte das nahe Krachen des Donners. Das Klatschen der Tropfen an der Oberfläche des Sees.
„Oh Scheiße!“, brüllte er. „Siehst du mich?“
Sie hielt ihn immer noch an den Schultern. Sie sah sich um. Sie fragte sich, wie sie ans Ufer gelangen und den vorspringenden Felsen hochklettern sollten. Vielleicht konnten sie sich ja an den Ästen und Wurzeln festhalten. Sie wandte sich zu ihm um. Seine Blicke irrte unstet umher, ohne irgendwo hängen zu bleiben – nicht einmal an ihr.
„ Siehst du mich? “, wiederholte er lauter.
„Was? Was?“
„ICH SEHE NICHTS MEHR! ICH BIN BLIND!“
Er beobachtete sie schweigend und unsichtbar wie ein Schatten. Ein Schatten unter den Schatten. Sie ahnten nicht, dass er so nahe war. Sie ahnten nicht einmal, dass er sich in der Gegend aufhielt. Er zog seine schwarze Mütze aus, um zu spüren, wie ihm der Regen durch seine kurz geschnittenen, blond gefärbten Haare auf den Schädel hämmerte,
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