Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
Vom Netzwerk:
Eine Mischung aus Aufregung und Furcht. Trotz seiner Ungeduld und Neugier zwang er sich dazu, langsam auszuatmen. Noch zwei Flossenschläge, und er sah ihn. Den grauen Mercedes von Joachim Campos … Trotz des Rostes, der ihn zerfraß, praktisch unversehrt. Die Hälfte des Kennzeichens war weggerostet, aber ein X, ein Y, eine doppelte 0 und die Ziffern des Departements blieben eindeutig zu erkennen.
    Da war etwas im Innern.
    Hinter dem Steuer.
    Er sah sie durch die Windschutzscheibe, die von einer durchsichtigen dünnen grünen Schicht überzogen war.
    Blass.
    Reglos.
    Den Blick nach vorn gerichtet.
    Die Leiche des ehemaligen Busfahrers.
    Er spürte, dass sein Herz viel zu heftig schlug, dass er zu schnell atmete. Er verrenkte sich, als er um den Wagen herumschwamm, und näherte sich ungeschickt der Fahrertür.
    Er streckte den Arm aus, um den Griff zu betätigen; wahrscheinlich würde er klemmen, aber wider Erwarten ging die Tür unter einem Quietschen auf, das vom Wasser gedämpft wurde. Dabei war nicht genügend Platz, um sie weit zu öffnen; die Räder waren in den Grund eingesunken, und der untere Teil der Tür stieß an das Relief des Bodens.
    Servaz beugte sich durch den Türspalt ins Innere und beleuchtete die Gestalt am Lenker.
    Er saß noch immer auf seinem Sitz, gehalten von dem, was von seinem Sicherheitsgut übrig war. Wäre er nicht angeschnallt gewesen, hätten die Fäulnisgase nach wenigen Tagen den Leichnam aufgetrieben und an der Decke schweben lassen. Der Lichtkegel der Lampe enthüllte Details, die Servaz lieber nicht gesehen hätte: Durch das lange Liegen im Wasser hatte sich das Körperfett in Adipocire – „Leichenwachs“ – verwandelt, eine Substanz, die sich wie Seife anfühlte, und Joachim glich einer vollkommen erhaltenen Wachsstatue. Dieser Verseifungsprozess hatte die Verwesung verhindert und dafür gesorgt, dass die Leiche so gut erhalten geblieben war. Die Kopfhaut war zersetzt worden, und Servaz hatte einen kahlen, wächsernen Kopf vor sich, der aus dem herausragte, was vom Hemdkragen übrig war. Die Haut an den Händen, die aus den zerfetzten Ärmeln hervorschauten, hatte sich ebenfalls abgelöst, und es sah aus, als trüge die Leiche dicke hautfarbene Handschuhe – auch dieser Prozess war typisch für Wasserleichen. Die Augen waren verschwunden, stattdessen klafften zwei schwarze Höhlen. Das Auto hatte die Leiche teilweise vor Aasfressern geschützt. Servaz atmete immer schneller. Er hatte schon Leichen gesehen, aber nicht zehn Meter tief in einem See, eingezwängt in einen Taucheranzug. Das Wasser wurde immer kälter. Er zitterte. Die zunehmende Dunkelheit, die Lichtblase und jetzt diese Leiche … Das Kohlendioxid wurde nicht mehr richtig aus dem Körper abgeführt, es beeinträchtigte zunehmend die Funktionstüchtigkeit seines Gehirns, und er kam außer Atem.
    Dann entdeckte Servaz das Loch an der Schläfe. Das Geschoss hatte die Wange nahe dem linken Ohr durchschlagen. Servaz untersuchte es. Ein aufgesetzter Schuss.
    Plötzlich geschah etwas Unglaubliches. Der Leichnam bewegte sich! Servaz spürte, wie ihn die Panik überkam. Da, die Hemdfetzen am Rumpf bewegten sich wieder, und er wich jäh zurück. Sein Kopf stieß gegen das Chassis. Er spürte, dass er mit seinem Druckventil an irgendetwas hängengeblieben war, und einen Moment lang versetzte ihn der Gedanke, keine Luft mehr zu bekommen, in Angst und Schrecken. In seiner Panik stieß er ganze Wolke von Luftbläschen aus. Unter dem Schock ließ er die Tauchlampe los, die zwischen den Beinen des Toten ganz langsam zum Fahrzeugboden sank und dabei die Leiche, das Armaturenbrett und die Decke in ihrem Lichtwirbel einfing.
    Im selben Moment schoss ein winziger Fisch aus dem zerfledderten Hemd heraus und suchte das Weite. In Servaz‘ Ohren summte es. Ihm ging die Luft aus, das Blut pochte in seinen Schläfen. Ihm fiel ein, dass er vergessen hatte, auf sein Nanometer zu sehen. Er streckte den Arm ins Innere, barg die Tauchlampe zwischen den Pedalen und den Schuhen des Toten und schwenkte sie in alle Richtungen, um Hilfe herbeizuholen.
    Wo war Ziegler?
    Er brachte es nicht über sich, zu warten. Mit ein paar panischen Flossenschlägen schoss er aufwärts. Doch schon nach wenigen Metern verfing er sich in einem Gewirr weitverzweigter weißer Wurzeln.
    Er spürte, wie ihn etwas am Bein packte. Um sich zu befreien, warf er sich heftig hin und her, als ein anderes Holzstück gegen seine Maske rammte. Von dem Aufprall ganz benommen,

Weitere Kostenlose Bücher