Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Lehrer mit ledernen Fahrradtaschen hinter den Sätteln oder an den Lenkstangen, die von Büchern überquollen. Diese Stadt schien vom Jugendwahn befallen zu sein. Abgesehen von den Ferien war die Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahre alt. Sie verließen die Stadt in nördlicher Richtung. Eine grüne Ebene mit einem dichten Waldsaum im Hintergrund.
„Da“, hatte er gesagt.
Zu ihrer Rechten erhob sich in einiger Entfernung von der Straße hinter einer großen Wiese ein hohes, langgestrecktes Gebäude. Mit den von Schornsteinen gespickten Dächern, der von Stabkreuzfenstern durchbrochenen Fassade und der verschachtelten Architektur wirkte es wie aus einem anderen Zeitalter. Das altehrwürdige Gebäude war von mehreren niedrigen, modernen Betonbauten umgeben, die wie durcheinander geratene Dominosteine auf dem Rasen herumlagen. Die Erinnerungen überfielen ihn. Hinter dem Gebäude sah er die in Gedanken versunkenen Statuen und die grün schimmernden Wasserbecken vor sich, die von Misteln besiedelten Wäldchen, die im November von welkem Laub überwehten Tennisplätze, die Laufanlage, den Wald, durch den er so gern auf den hoch gelegenen Hügel spaziert war, und den Ausblick, den man von dort auf die Pyrenäen und ihre vom Herbst bis ins Frühjahr schneebedeckten Gipfel hatte.
Eine Anwandlung von Wehmut drückte sein Herz wie mit eisigen Klauen zusammen.
Ohne dass er es bemerkte, umklammerten seine Finger das Lenkrad. Lange hatte er sich danach gesehnt, eine zweite Chance zu bekommen, dann hatte ihm schließlich gedämmert, dass daraus nichts werden würde. Er hatte seine große Chance ungenutzt vorüberstreichen lassen. Und so würde er sein Berufsleben genauso beschließen, wie er es begonnen hatte: als Polizist. Seine Träume hatten sich als genauso substanzlos erwiesen wie Wolken.
Zum Glück dauerte dieses Gefühl nur einen Moment. Schon in der nächsten Sekunde war es verschwunden.
Sie bogen von der Hauptstraße in die asphaltierte Zufahrt ein. Sie verlief zwischen einem weiß gestrichenen Zaun, der sie auf der linken Seite von der großen Wiese und dem Hauptgebäude trennte, und einer Reihe alter Eichen jenseits eines Grabens zu ihrer Rechten. Auf der Wiese sprangen Pferde herum. Unwillkürlich musste er an den Fall denken, der ihn im Winter 2008-2009 in Atem gehalten hatte.
„Lebe deine Träume“, sagte er unvermittelt.
Ihre erstickte Stimme …
Margot wandte sich überrascht um. Er wünschte sich, den Schleier in seinen Augen verbergen zu können.
„Diese Vorbereitungsklasse wird Ihnen viel abverlangen. Sie richtet sich an hoch motivierte Schüler, die bereit sind, hart zu arbeiten. Die beiden Jahre, die Sie hier verbringen, werden Ihnen Gelegenheit zur Entfaltung Ihrer Fähigkeiten und zur produktiven Erweiterung Ihrer Kenntnisse, zu einzigartigen Begegnungen und Erfahrungen geben. Das Wissen, das wir vermitteln, vernachlässigt nicht die menschliche Dimension. Im Gegensatz zu anderen Lehranstalten sind wir nicht besessen von den Statistiken“, hatte der Schulleiter lächelnd ausgeführt.
Servaz war sich sicher, dass genau das Gegenteil zutraf. Hinter dem Schulleiter stand das Fenster offen. Er sah Efeu, hörte den Lärm eines Rasenmähers und Hammerschläge. Er wusste, dass sich das Büro des Schulleiters unter dem Dach eines kreisrunden Eckturms befand und dass dessen Fenster auf die Rückseite der Gebäude ging: Er kannte diesen Ort wie seine Westentasche.
„Eine Wiederholung des ersten Jahres ist nicht zulässig, es sei denn auf Beschluss von Schulleiter und Schulkonferenz, wenn ein Schüler einen Unfall oder eine durch ärztliches Attest bestätigte schwere Erkrankung hatte. Dagegen ist eine Wiederholung des zweiten Jahres wegen der eminent anspruchsvollen Aufnahmeprüfungen bei den Elitehochschulen oftmals notwendig. Diese Möglichkeit steht allen Schülern offen, die während der beiden Jahre die erforderlichen Fähigkeiten unter Beweis gestellt haben.“
Ein Sonnenstrahl glitt über die Aktenmappe mit Margots Namen hinweg, als der Schulleiter sie aufschlug und ein loses Blatt herausnahm, das er aufmerksam musterte.
„Kommen wir jetzt zu den Wahlfächern. Das ist eine sehr ernste Frage. Sie sollten die Auswahl nicht auf die leichte Schulter nehmen, junge Frau. Auch wenn Sie Ihre Wahlfächer für die Aufnahmeprüfung erst zu Beginn des zweiten Jahres festlegen, hat die Auswahl, die Sie im ersten Jahr treffen, doch einen maßgeblichen Einfluss darauf. Und ich rate Ihnen davon ab,
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