Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Ordnung, ich bringe ihn vorbei“, stieß er schließlich hervor und packte Servaz am Arm. „Gehen wir! Was für eine verdammte Geschichte!“ Servaz konnte jetzt die Panik in seiner Stimme hören.
„Ich hatte Sie doch gebeten, ihn mir zu geben.“
„Später! Wir müssen so schnell wie möglich weg von hier. Wenn Sie in Gefahr sind, bin ich es auch! Wir fahren sofort zur Gendarmeriekaserne! Sie haben nicht zufällig ein Waffe?“
Gute Frage. Wo war seine abgeblieben? Er erinnerte sich, dass er sie vor dem Tauchgang in den Stausee im Handschuhfach gelassen hatte.
„Nein“, sagte er. „Aber Sie könnten sie ja sowieso nicht bedienen.“
Kaum waren sie aus der Glastür des Krankenhauses getreten, als ihnen noch im Schutz der Markise das tobende Gewitter entgegenschlug. Die Luft roch und schmeckte nach Ozon, es gab ein ohrenbetäubendes Krachen. Der junge Mann nahm Servaz am Arm, und durch den sintflutartigen Regen überquerten sie mit langen Schritten den Parkplatz. Servaz war sofort klatschnass. Der Regen tropfte in seinen Nacken und in den Kragen seines Patientenkittels, durchnässte seine Haare. Das Wasser drang durch die Sohlen seiner Schuhe, quatschte zwischen seinen Zehen. Er begann zu zittern. Ein weiterer Donnerschlag zerriss die Nacht.
Er hörte, wie der junge Mann eine Wagentür öffnete.
„Steigen Sie ein!“
Tropfnass ließ er sich auf den Beifahrersitz fallen und brach in ein nervöses Lachen aus, als er bemerkte, dass er reflexartig nach der Schnalle des Sicherheitsgurts suchte.
„Warum lachen Sie?“, fragte der junge Mann, der schnell die Tür zuschlug und den Motor anließ.
Er antwortete nicht. Sein Nachbar stellte die Scheibenwischer auf die höchste Stufe, und sie fuhren mit quietschenden Reifen an. Er spürte, wie sich der Wagen in einer engen Kurve an der Parkplatzausfahrt zur Seite neigte und rutschte. Vielleicht war es letztlich ganz gut, dass er nichts sah.
„Ich glaube, wir haben ihn abgehängt“, versuchte er zu scherzen. „Müssen wir so rasen?“
„Haben Sie was gegen Tempo?“
„Ein bisschen.“
Durch den nächsten Kreisverkehr rasten sie mit der gleichen höllischen Geschwindigkeit, und Servaz´ Kopf schlug gegen die Scheibe.
„Verdammt, fahren Sie langsamer!“
„Schnallen Sie sich an“, forderte ihn sein Nachbar auf.
Er hörte, wie das Wasser gegen den Wagenboden peitschte, hörte die von den Reifen aufgeschleuderten Wasserfontänen, den Himmel, der unter der Gewalt der Blitze bebte. Der Sturm tobte. Aus allen Richtungen hallte der Donner, als hätte er einen Surround-Kopfhörer auf den Ohren. Er fühlte sich gleichzeitig erleichtert und beunruhigt. Ein Donnerschlag krachte lauter als die anderen, und er zuckte zusammen.
„Was für ein merkwürdiges Wetter, nicht wahr?“
Servaz fand die Bemerkung angesichts der Situation ein wenig seltsam. Da war etwas in der Stimme des jungen Mannes … von Anfang an … ein Tonfall … Jetzt fiel es ihm auf. Schon beim ersten Mal, als der junge Mann die Tür zu seinem Zimmer geöffnet und er vom Bett aus seine Stimme gehört hatte, hatte sie ihn an etwas erinnert. Vertraut war sie ihm zwar nicht. Trotzdem hatte er das Gefühl, sie schon irgendwo gehört zu haben – mindestens einmal.
„Arbeiten Sie schon lange in diesem Krankenhaus?“
Die Antwort ließ auf sich warten.
„Nein.“
„Was genau machen Sie?“
„Was? Pflegehelfer …“
„Hätten wir nicht Ihre Vorgesetzten informieren müssen?“
„Sie müssen sich schon entscheiden! Sie und Ihr Mitarbeiter sagen mir erst, ich soll mich beeilen, und jetzt …“
„Ja, aber trotzdem“, sagte er. „Einfach so mit einem Patienten abdüsen, ohne jemanden davon in Kenntnis zu setzen … Haben Sie keinen Pager?“
Schweigen. Servaz spürte, wie ihm wieder übel wurde, wie ihn eine Woge der Angst überflutete. Seine Hand klammerte sich instinktiv an dem Griff über der Tür fest.
„Sobald wir angekommen sind, verständigen wir das Krankenhaus“, sagte der junge Mann.
„Ja, Sie haben recht. Was genau tun Sie als Krankenpfleger?“
„Hören Sie. Ich glaube nicht, dass das der geeignete Moment ist, um …“
„Woher wissen Sie, dass Lieutenant Espérandieu mein Mitarbeiter ist?“
Das Geräusch des Motors, das Schlagen der Scheibenwischer und das Trommeln des Regens auf das Wagendach waren die einzige Antwort, die er erhielt.
„Wohin fahren wir, David ?“, fragte er.
47
Ausfahrt
Die Nacht vom 18. auf den 19. Juni war eine der unruhigsten
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