Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
des ganzen Jahres. Böen mit einer Windgeschwindigkeit von bis zu 160 Stundenkilometern, entwurzelte Bäume, überflutete Keller und eine beeindruckende Zahl von Blitzeinschlägen in der Region rund um Marsac. Die Feuerwehren fuhren zahlreiche Einsätze, und eine Bö wehte das Blechdach eines Baumarkts weg. Die Nacht vom 18. auf den 19. Juni war auch eine der längsten in Servaz´ Leben. Während David und er durch den Regensturm fuhren, durch Donnergrollen, Windstöße und Blitze, sagte er sich, eingesunken in seinen Sitz, während ihm der Schweiß unter dem durchnässten Verband in den Augen brannte, dass das Wetter genau das Gleiche war wie in der Nacht, als sie die Leiche von Claire Diemar in ihrer Badewanne gefunden hatten.
„Hübsche Komödie“, sagte er mit einer Stimme, der er vergeblich Festigkeit zu geben versuchte. „Ich wäre beinahe drauf reingefallen.“
„Sie sind drauf reingefallen“, korrigierte ihn sein Nachbar.
„Wohin fahren wir?“
„Wollen Sie denn nicht mein Geständnis hören, Commandant?“
„Ich höre.“
Sie fuhren durch einen weiteren Kreisverkehr, wo der Wagen gefährlich ins Schleudern kam. Ein wütendes Hupen zerriss die Nacht hinter ihnen.
„Ich habe Claire Diemar umgebracht, und Elvis und Joachim Campos und noch einige andere“, sagte David laut, um den Lärm zu übertönen. „Sie haben bekommen, was sie verdient haben. So sehe ich das. Und wie sehen Sie das, Commandant?“
„Warum, David?“
Statt einer Antwort griff der junge Mann nach Servaz‘ linker Hand und schob sie in einer Geste überraschender Intimität unter sein T-Shirt. Ein Schauder überlief den Polizisten, als er mit den Fingerkuppen eine große Fleischwulst ertastete, die sich quer über dan ganzen Bauch erstreckte.
„Was ist das?“
„Eine asiatische Spezialität. Auf Japanisch heißt das Seppuku. Als ich vierzehn war … Aber ich hatte nicht den Mut, es durchzuziehen. Und mit einem stumpfen Messer geht es ja auch nicht so einfach wie mit einem gut geschärften Säbel, nicht wahr?“ Ein kurzes höhnisches Lachen. „Nicht jeder, der es gern wäre, ist ein zweiter Mishima“, sagte er bitter.
Einen Moment lang ärgerte sich Servaz, dass er nicht die notwendige Fachkompetenz besaß, um mit einem solchen Verhalten angemessen umzugehen – kurz, dass er Polizist und nicht Psychiater war.
„Sie kennen doch das berühmte Diktum von Camus, Commandant, nicht wahr?“
„Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt, auf die Grundfrage der Philosophie antworten“, zitierte Servaz mechanisch. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir folgen kann. Geht es darum, David: Wir begehen im Auto Selbstmord?“
Statt einer Antwort nur Schweigen. Servaz schluckte. Er musste ein Mittel finden, um diesem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Aber welches? Er war in einer Metallkarosserie gefangen, die wie der Teufel durch den Regen raste, und er hatte nicht die geringste Kontrolle über die Situation.
„Warum auch nicht? Es wäre zugleich mein Abschied und mein Geständnis“, sagte sein Fahrer mit eisiger Stimme. „Ein Geständnis mit einer Unterschrift aus Blut und Metall.“
Servaz gelang es, die Scheibe herunterzulassen. Ihm war übel. Große Tropfen schlugen ihm ins Gesicht. In tiefen Zügen atmete er die feuchte Luft ein. Er fragte sich, was passieren würde, wenn er aus dem fahrenden Wagen springen würde.
„Lassen Sie das besser“, sagte David. „Da sind überall Bäume und Leitungsmasten. Wenn Sie jetzt aussteigen, wird man sehr wahrscheinlich Ihren Kopf auf der einen und Ihren Körper auf der anderen Seite finden. Ich glaube nicht, dass der Anblick Margot gefallen würde.“
Er fuhr die Scheibe wieder hoch.
„Du hast meine Frage nicht beantwortet: Warum?“
„Kennen Sie einen einzigen Menschen, der wirklich unschuldig ist, Commandant? Ich wette, Sie finden keinen.“
„Hör auf mit diesem Geschwätz! Warum du , David? Du bist nicht der einzige Überlebende dieses Unfalls … Warum nicht Virginie, Hugo oder Sarah …? Oder wolltest du die anderen rächen, zum Beispiel den, der an Krücken geht? Oder den im Rollstuhl? Der … Kreis , das seid doch ihr, oder?“
Diesmal reagierte David. Er warf ihm einen Blick zu, in dem die Überraschung flackerte.
„Respekt, Commandant. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie mit Ihren Ermittlungen so weit kommen. Aber die anderen sind unschuldig. Ich
Weitere Kostenlose Bücher