Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
versucht, sich die Haut von den Händen zu reißen, aber es ging nicht, und sie wäre beinahe ohnmächtig geworden. Wahrscheinlich wollte er verhindern, dass sie sich mit den Zähnen die Adern in den Armen oder den Schenkeln aufbiss.
In der Dunkelheit setzte sie sich anders hin, um ihre angespannten Muskeln zu entlasten. Sie saß auf dem Boden aus gestampfter Erde und lehnte an einer Steinmauer. Manchmal legte sie sich auch flach hin. Oder sie kroch in eine Ecke zu ihrer schäbigen Matratze. Die meiste Zeit döste sie mit angezogenen Beinen vor sich hin. Manchmal stand sie auf und ging ein bisschen – ein paar Schritte, nicht mehr. Sie hatte keine Lust mehr zu kämpfen. Sie trug keinerlei Kleidung, war nackt wie ein Neugeborenes. Und furchtbar schmächtig. Er gab ihr nur noch alle zwei Tage zu essen - gerade genug, damit sie nicht verhungerte. Er wusch sie nicht mehr. Sie war stark abgemagert, und überall spürte sie unter ihrer verdreckten Haut ihre Knochen. Sie hatte ständig einen üblen Geschmack im Mund, zusätzlich zu dem Geschmack des Knebels, und furchtbare Schmerzen plagten sie in der linken Seite des Kiefers und der Zunge: ein Abszess. Ihr schmutziges Haar juckte. Sie fühlte sich immer schwächer. Sie mochte um die vierzig Kilo wiegen. Vielleicht weniger.
Er brachte sie auch nicht mehr nach oben. Ins Esszimmer. Keine Mahlzeiten mehr, keine Musik, keine Vergewaltigungen im Schlaf, denn er begehrte sie nicht mehr. Das war ihre einzige Erleichterung. Sie fragte sich, warum er sie am Leben ließ.
Denn sie hatte jetzt eine Nachfolgerin. Einmal hatte er sie ihr vorgestellt. Sie war so schwach, dass sie sich nicht mehr allein auf den Beinen halten konnte und er sie stützen musste, als sie die Stufen zum Erdgeschoss hinaufstieg. „Wie du stinkst!“, hatte er ihr naserümpfend gesagt. Sie hat die junge Frau am Esstisch sitzen sehen, in dem Sessel, der früher ihrer gewesen war. Ihr Oberkörper war mit demselben breiten Lederriemen an der Rückenlehne festgebunden, mit dem er immer sie angeschnallt hatte. Sie hatte diesen Blick wiedererkannt: Es war ihr eigener vor einigen Monaten oder Jahren. Zuerst hatte sie nichts gesagt, sie hatte nicht mehr die Kraft dazu. Sie hatte nur den Kopf hin und her bewegt, während sie die Neue verstohlen ansah. Aber sie hatte den Schrecken in den Augen der Frau gelesen, die ihr Kleid trug, sie ahnte, dass ihr Haar frisch gewaschen und ihr Körper parfümiert war. Schließlich hatte sie hervorgestoßen: „Das ist mein Kleid.“ Er hatte sie wieder zurück in den Keller gebracht. Es war das letzte Mal, dass sie sie gesehen hatte, aber hin und wieder hörte sie oben Musik, und dann wusste sie, was los war. Sie fragte sich, an welcher Stelle des Hauses er sie einsperrte.
Lange hatte sie gefürchtet, verrückt zu werden, sie hatte gekämpft, um nicht den Verstand zu verlieren, sie hatte versucht, sich an die Wirklichkeit zu klammern. Jetzt ließ sie los. Der Wahnsinn, der am Rand ihres Bewusstseins lauerte wie ein Raubtier, das sich seiner Beute sicher ist, hatte begonnen, ihren klaren Verstand zu verschlingen. Die einzige Möglichkeit, ihm weiterhin zu entrinnen, bestand darin, an die vierzig Jahre ihres bisherigen Lebens zu denken, daran, worin es bestanden hatte – das Leben einer anderen, die ihren Namen trug, ihr aber nicht mehr glich. Ein schönes, bewegtes, tragisches Leben – aber niemals langweilig.
Die Schuldgefühle drückten ihr die Luft ab, wenn sie an Hugo dachte. Sie war so stolz auf ihn gewesen. Sie wusste von seinen Süchten, aber wer war sie, dass sie den ersten Stein geworfen hätte? Ihr Sohn, der so gutaussehend, so brillant war … ihr größter Erfolg. Wo war er jetzt? Im Gefängnis oder in Freiheit? Wenn sie an ihn dachte, raubte ihr die Angst den Atem, schnürte ihr die Brust ab. Und dann drohte sie vor Kummer zu zerbrechen, wenn sie Mathieu, Hugo und sich selbst zusammen, vereint vor sich sah, wie sie im Garten oder am Strand spielten, an einem klaren Morgen auf dem See segelten, wie sie an einem Frühlingsnachmittag bei einem Grillfest von Freunden umgeben waren, von denen sie wusste, dass sie alle ihre Familie bewunderten. Sie hörte ihr Lachen, ihre Ausrufe, sie sah ihren fünfjährigen Sohn, den sein Vater in die Luft warf, freudestrahlend, ein einziges Glück auf dem pausbäckigen Gesicht. Oder Vater und Sohn am Kopfende des Bettes, Hugo den Daumen im Mund, aufmerksam, konzentriert, furchtbar ernst, und dann allmählich einschlafend, während sein
Weitere Kostenlose Bücher