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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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komme so schnell wie möglich.“
    „Aber du siehst doch nichts!“
    „O doch, ich sehe … Und, glaube mir, manchmal wäre es besser, nichts zu sehen.“
    Perplexes Schweigen am anderen Ende.
    „Du bist nicht im Krankenhaus?“
    „Nein. Ich bin auf einer Autobahnraststätte.“
    „Was? Wie ist …“
    „Vergiss es. Beeil dich. Ich erkläre es dir später.“
    Hinter ihm wurde eine Tür zugeschlagen. Servaz drehte sich um.
    „Warte einen Moment“, sagte er zu seinem Mitarbeiter.
    Er glaubte, ein Lächeln auf Davids Gesicht zu erkennen. Durch die nasse Windschutzscheibe begegneten sich ihre Blicke. Servaz spürte eine Art elektrischen Schlag. Er ging mit langen Schritten Richtung Auto und fing an zu laufen, als der Fiesta langsam rückwärts stieß. Während er auf ihn zu rannte, sah er wie im Traum, wie der Wagen auf dem Asphalt des Parkplatzes eine anmutige Arabeske beschrieb, bis er zur Ausfahrt zeigte, und anschließend im Vorwärtsgang anfuhr.
    Weit würde er nicht kommen, sobald alle Mautstellen gesperrt wären, überlegte Servaz. Dann – im Bruchteil einer Sekunde – begriff er. Nein! Nein, David. NEIN!
    Er lief, so schnell ihn seine Beine trugen, schreiend, angetrieben von Verzweiflung, Angst, Wut, dem Gefühl, dass er sich diese Dummheit niemals würde verzeihen können. Rannte vergeblich hinter dem Wagen her, während der sich entfernte. Schon waren seine Rücklichter unerreichbar, schon fuhr er durch die Lücke zwischen den Hecken hindurch und den Hang hinunter, den er vor einigen Minuten erst hinaufgedüst war. Dann bog er wieder auf die Autobahn.
    Blieb mitten auf den Fahrbahnen stehen.
    Quer zur Fahrtrichtung …
    Von da, wo er stand, hörte Servaz, wie David den Motor abstellte. Hörte dann von links das hysterische Tuten. Wandte den Kopf gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie in der großen Kurve unten am Hügel der Sattelschlepper auftauchte. Sah, wie das Monster zu spät und zu jäh abbremste, sich auf den drei Fahrspuren quer stellte, sah, wie der Anhänger mit seiner gesamten Ladung auf den winzigen Ford stürzte und ihn unter zerbeultem Blech, zerquetschten mechanischen Teilen, Metall, Plastik und Menschenfleisch begrub.
    Den Rest sah er viel später wie durch einen Nebel: die Rettungswagen, die Polizeifahrzeuge, die Blaulichter, die die Nacht zerkratzten, kaum hörte er das Heulen der Sirenen, die knisternden Durchsagen auf Funkgeräten, die Schreie, die Befehle, das Zischen der Feuerlöscher, die ihr Trockeneis ausspuckten, die schrille Klage der elektrischen Sägen, und den Pressewagen, die kamen, um sich an den Ereignissen zu weiden, den Kleinbussen mit Parabolantennen, den Fernsehkameras, dem Blitzlichtgewitter schenkte er weiter keine Beachtung, ja selbst der jungen Journalistin nicht, die ihm ein Mikrophon vor die Nase hielt, bis er sie zurückstieß. Sie alle erschienen ihm eher wie die Schemen eines Traumes als wie Menschen aus Fleisch und Blut. Er schleppte sich zur Cafeteria, und ein seltsamer Gedanke bahnte sich einen Weg durch sein Gehirn, als er sah, dass auch dort die Menschen wie Bienen herumschwirrten, die im Rauch die Orientierung verloren hatten. Diese Leute, sagte er sich, wussten es nicht, aber si waren verrückt. Nur Verrückte konnten in einer solchen Welt leben und sie Tag für Tag ihrem Untergang ein Stück näher bringen wollen. Dann bestellte er einen Kaffee.
     
     
    Zwischenspiel 4
    Im Grab
    Ein einziger stummer Schrei.
    Ein Wehklagen.
    Innerlich schrie sie vor Verzweiflung, brüllte ihre Wut, ihren Schmerz, ihre Einsamkeit heraus … alles, was ihr im Lauf der Monate immer mehr von ihrer Menschlichkeit geraubt hatte.
    Sie flehte auch.
    Erbarmen, Erbarmen, Erbarmen, Erbarmen … Lasst mich hier raus, ich flehe euch an …
    Innerlich schrie und flehte und heulte sie. Aber nur innerlich: In Wirklichkeit drang kein Laut aus ihrer Kehle. Sie hatte einen Knebel im Mund, dessen Riemen in ihrem Nacken straff verknotet war. Er hatte ihr die Hände nicht im Rücken gefesselt: Sie hätte die Fesseln an dem Stein ihres Verlieses aufscheuern können. Dabei hatte sie die Hände durchaus im Rücken: Sie waren vom Handteller bis zu den Fingerspitzen mit extrastarkem Kleber verleimt. Es war eine sehr unbequeme Haltung, die alsbald ständige Schmerzen in ihren Gelenken und eine extrem schmerzhafte chronische Verspannung der Muskeln um die Wirbelsäule hervorgerufen hatte. Außerdem zwang sie sie ständig, selbst im Schlaf, in eine gekrümmten Stellung. Sie hatte durchaus

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