Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Servaz von Richter Sertat die Erlaubnis erhalten, Hugo im Rahmen der Ermittlungen über den Mord an Elvis anzuhören, der zwar ein eigenständiger Fall war, aber mit dem ersten in Verbindung stand.
„David ist tot“, sagte er leise.
Er sah, wie sich das Gesicht des jungen Mannes vor Schmerz verzerrte.
„Wie das?“
„Er hat sich umgebracht. Er ist in verkehrter Richtung über die Autobahn gerast. Sein Auto ist mit einem LKW zusammengestoßen. Er war auf der Stelle tot.“
Servaz‘ Blick durchbohrte Hugo. Der Schmerz des Jungen war echt, er kämpfte mit den Tränen, seine Lippen waren verzerrt, als hätte er eine Schachtel Nägel verschluckt.
„Hast du gewusst, dass er selbstmordgefährdet war?“
Hugo hob den Kopf. Er starrte Servaz mit funkelnden Augen an und nickte.
„Ja.“
„Schon lange?“
Der junge Mann zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: „Das ist jetzt doch sowieso alles egal.“
„David war depressiv, seit ich ihn kannte“, sagte er mit einer flachen, mechanischen Stimme. „Schon als wir noch Kinder waren, war er immer … bizarr … Er hatte diesen schwarzen Humor … und dieses traurige Lächeln. Schon mit zwölf Jahren hat er so gelächelt.“
Servaz sah, wie er tief einatmete, als bereitete er sich auf einen Tauchgang ohne Sauerstoffgerät vor.
„Sein Verhalten war manchmal unberechenbar, er konnte in einer Sekunde fröhlich und in der nächsten verzweifelt sein. Einmal habe ich gesehen, wie er einem Kumpel einen großen Stein an den Kopf warf, nur weil der anderer Meinung war als er. Wenn er so drauf war, gingen ihm alle aus dem Weg – aber mich hat das nicht gestört. Seine Mutter hat ihn jahrelang zu Psychiatern geschleppt, bis er ihr eines Tages gesagt hat, sie sollte sich verpissen. Schuld an dem Ganzen ist sein Vater, dieser dreckige Mistkerl.“ Hugos Stimme strömte wie Lava dahin. „Und sein Bruder. Sie haben ihn kaputt gemacht … Diese beiden Dreckskerle müssten wegen Psychoterror angeklagt werden, wenn Sie mich fragen … Ich erinnere mich, dass David mit 14 einmal ein Mädchen, eine niedliche Kleine, nach Hause mitgebracht hat. Seinem Bruder hat es dermaßen viel Spaß gemacht, ihn vor ihr zu demütigen, und er hat sich ihr gegenüber so unmöglich benommen, dass sie keinen Fuß mehr in ihr Haus setzen und nicht mal mehr mit ihm reden wollte. Sein Vater sagte immer zu seiner Mutter, sie hätten ‚einen Jungen und ein Mädchen‘. Er verbot ihm, zu lesen oder auch nur Bücher in seinem Zimmer aufzubewahren: Er sagte, Lesen würde verweichlichen. Sein Vater rühmte sich, er hätte es so weit gebracht, ohne in seinem Leben auch nur ein einziges Buch gelesen zu haben.“
„Wie kommt es dann, dass David in Marsac gelandet ist?“
„Sein Vater und sein Bruder haben sich schon lange nicht mehr dafür interessiert, was David machte oder was aus ihm wurde; sie waren zu dem Schluss gelangt, dass ihm nicht mehr zu helfen war, und damit basta. Ich glaube, das hat ihn noch tiefer verletzt als die Misshandlungen. Seine Mutter hat seinen Schulbesuch aus eigener Tasche finanziert. Sie hat immer versucht, David vor ihrem Vater und ihrem Bruder zu schützen – aber sie war schwach, und sie wurde selbst von ihnen schikaniert …“
„Hat er schon einmal versucht, sich umzubringen?“
„Ja, mehrmals … Einmal hat er sogar versucht, sich den Bauch mit einem Messer aufzuschneiden. Wie die Samurai, wissen Sie? Das war nach dem Vorfall mit dem Mädchen …“
Servaz erinnerte sich an die Narbe, die er ertastet hatte. Es schnürte ihm die Kehle zu, und er schluckte. Hugo sah sie der Reihe nach an.
„Haben Sie mich deshalb mitten in der Nacht aufgeweckt? Sind Sie deshalb mit diesem Großaufgebot erschienen? Um mir Davids Tod mitzuteilen?“
„Nicht wirklich.“
„Ich werde doch morgen früh freigelassen, oder?“
Servaz hörte die Sorge in seiner Stimme. Er antwortete nicht.
„Verdammt, David, mein Kumpel, mein Bruder …“, jammerte Hugo plötzlich. „Was hattest du für ein Scheißleben, mein Freund, …“
„Er hat das für dich getan“, sagte Servaz leise, aber deutlich.
„Was?“
„Ich war bei ihm im Auto. David hat sich der Morde an Claire Diemar und Elvis Elmaz bezichtigt. Und außerdem der Morde an Bertrand Christiaens und Joachim Campos …“
„An wem?“
Gut gespielt , dachte Servaz. Du hast dich nicht hereinlegen lassen.
„Diese beiden Namen sagen dir nichts?“
Hugo schüttelte den Kopf.
„Sollten sie?“
„So hießen der
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