Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Vater ihm Robinson Crusoe, Die Schatzinsel oder Der Krieg der Knöpfe vorlas. Mathieu war bei diesem Autounfall tödlich verletzt worden, und er hatte sie – Hugo und sie selbst – zurückgelassen, kaum dass ihr gemeinsames Leben begonnen hatte. Manchmal hasste sie ihn dafür.
Auch das Haus am See sah sie vor sich, die Terrasse, auf der sie an schönen Tagen frühstückte, ein Buch in der Hand, den glatten, friedlichen See, in dem sich die Bäume des gegenüberliegenden Ufers spiegelten, diese kleine Insel des Friedens, von der sie niemals genug bekam und die nur von dem Knattern eines Segels gestört wurde, das gefiert wurde, den Schreien von Kindern auf einem benachbarten Grundstück und dem Brummen eines Außenbordmotors, das das Echo herantrug.
Und dann dachte sie an Martin … Sie dachte häufig an ihn.
Martin, ihre größte Liebe, ihr größter Misserfolg. Sie erinnerte sich an die Unterrichtsstunden in Marsac, in denen sich ihre Blicke zwanzigmal pro Stunde begegneten, daran, wie sie es kaum erwarten konnten, sich wiederzusehen, an ihre Gespräche über Schopenhauer, Nietzsche und Rimbaud. An ihre Wutausbrüche, wenn ihn die Musik und die Texte von Bob Dylan, Morrison, Bruce Springsteen oder den Stones völlig kalt ließen. Sie nannte ihn „Alter“ oder „mein lieber Alter“, obwohl er nur ein Jahr älter war als sie. Aber, weiß Gott, sie liebte ihn. Und sie hatte ihn noch mehr geliebt, als sie las, was er schrieb. Einer, der tief in die Herzen hineinsehen und alles, was er sah, auf Papier festhalten konnte. Ein unglaubliches Talent … Das war ihr erster Gedanke gewesen, als sie die ersten Zeilen der Novelle Das Ei gelesen hatte. Bis heute erinnerte sie sich an den ersten Satz: „Es ist vorbei, zu Ende, finito: Wenn ich morgen sterben würde, müsste nicht ein Komma in dieser Geschichte geändert werden – der langweiligsten, die je geschrieben wurde.“ Sie liebte sie, sie bewunderte sie, aber sie wusste, dass sie nicht seine erste Leserin war, sondern dass Francis, sein Alter ego, sein Bruder, ihr zuvorgekommen war. Manchmal war sie eifersüchtig auf Francis. Auf die Macht, die er über Martin hatte. Und auf die Macht, die er über sie hatte … Der Stoff … Sie fürchtete in dieser Zeit nur eines: Dass Francis Martin alles erzählte, dass er ihm sagte, dass der Mensch, den er auf der Welt am meisten liebte, eine Rauschgiftsüchtige war. In der ganzen Zeit, in der sie zusammen waren, hatte sie diese Angst nicht losgelassen. Vielleicht hatte sie ihn letztlich deswegen verlassen. Um keine Angst mehr haben zu müssen …
Sie liebte ihn, sie bewunderte ihn – und sie hatte ihn verraten … Sie kauerte sich in ihrem dunklen Grab zusammen. Ihr Kopf war leer, ihr Körper zitterte. Plötzlich wehte der Wind der Verzweiflung all diese sonnigen Bilder fort, und Finsternis, Kälte und Abgrund brachen über sie herein. Der Wahnsinn war zurück, und sie spürte, wie er seine scharfen Krallen in ihr Gehirn bohrte. In diesen Momenten klammerte sie sich mit aller Kraft an einer Vision fest, der einzigen, die sie noch vor dem unwiederbringlichen Wahnsinn bewahrte.
Sie schloss die Augen, und sie begann zu laufen. Allein, an einem Strand, der zum Teil von der Ebbe entblößt war. Im leuchtenden Morgengrauen funkelten die Wellen und der feuchte Sand, die Brise zerzauste ihr Haar. Sie lief und lief und lief immer weiter. Stundenlang, mit geschlossenen Augen. Die Schreie der Möwen, das regelmäßige Rauschen des Meeres, ein paar Segel am Horizont und das leuchtende Morgenrot. Sie hörte nicht mehr auf zu laufen. An diesem endlosen Strand. Sie wusste, dass sie das Tageslicht nie mehr wiedersehen würde.
48
Finale
Die Scheinwerfer beleuchteten die Außenmauer des Gefängnisses. Der Parkplatz war leer. Servaz parkte so nahe wie möglich am Eingang. Die Wut hatte ihn nicht verlassen. Diese Wut, der Niedergeschlagenheit und Müdigkeit nach und nach gewichen waren.
Der Direktor erwartete sie. Er hatte im Lauf der Nacht mehrere erstaunliche Anrufe erhalten: von der Staatsanwaltschaft, von der Kripo und sogar vom Generaldirektor der Justizvollzugsverwaltung, der von der Justizministerin persönlich angewiesen worden war, alles zu unternehmen, „um Commandant Servaz und Hauptmann Espérandieu die Arbeit zu erleichtern“. Er verstand nicht, warum alle Welt diesen Fall plötzlich so wichtig nahm; er wusste nicht, dass ein Abgeordneter der Regierungsmehrheit, der Hoffnungsträger seiner Partei, beinahe verhaftet
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