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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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Bereitschaftsdienst.
    „Wer?“
    „Der Anwalt der Familie. Er will den Jungen sehen.“
    Servaz runzelte die Stirn.
    „Der Junge hat keinen Anwalt verlangt, und es ist keine Besuchszeit“, sagte er. „Das sollte er wissen.“
    „Er weiß es. Aber er bittet um einen Gefallen: Er will fünf Minuten mit dir reden. Das hat er gesagt. Und auch, dass ihn die Mutter geschickt hat.“
    Servaz schwieg eine Weile. Sollte er der Bitte des Advokaten nachkommen? Er hatte Verständnis für Mariannes Ängste. Was hatte sie diesem Typen über ihre Beziehung erzählt?
    „Wo ist er?“
    „Unten. In der Halle.“
    „In Ordnung. Ich gehe runter.“
     
    Als Servaz aus dem Aufzug trat, ertappte er die beiden Dienst habenden Gendarmen dabei, wie sie auf einen kleinen Fernseher starrten, der hinter der halbrunden Theke versteckt war. Auf dem Bildschirm sah er eine grüne Fläche und winzige blau gekleidete Figuren, die in alle Richtungen liefen. In Anbetracht der Uhrzeit musste es sich um eine Wiederholung handeln. Servaz seufzte: Ganze Länder waren am Zusammenbrechen, die vier apokalyptischen Reiter hießen Finanz, Politik, Religion und Rohstoffmangel und trieben ihre Pferde mit kräftigen Peitschenhieben an – aber die breite Masse tanzte weiterhin auf dem Vulkan und begeisterte sich für solche belanglosen Dinge wie Fußball.#
    Der Anwalt saß auf einem der Sitze in der schwach beleuchteten, menschenleeren Eingangshalle. Tagsüber waren sie voll belegt. Zum Vergnügen kommt niemand in eine Polizeidienststelle, und die Polizisten hatten es mit lauter verzweifelten, wütenden oder verängstigten Menschen zu tun. Aber um diese Uhrzeit war der kleine Mann allein, er hatte seine Aktentasche auf seine zusammengepressten Knie gestellt und putzte im gedämpften Licht seine Brille. Hinter den Glasscheiben regnete es noch immer.
    Der Anwalt hatte gehört, wie die Aufzugstür aufgegangen war. Er setzte seine Brille wieder auf und sah in Servaz´ Richtung. Servaz winkte ihn durch heran, und der Mann kam mit ausgestreckter Hand um den Empfangstresen. Ein kühler, weicher Händedruck. Danach strich er sich die Krawatte glatt, als wollte er sich die Hand abwischen.
    „Sie wissen ganz genau“, hob Servaz an, „dass Sie hier nichts verloren haben. Der Junge hat nicht nach einem Anwalt verlangt.“
    Der kleine Mann um die sechzig taxierte ihn, und Servaz war sofort auf der Hut.
    „Ich weiß, ich weiß, Commandant. Aber Hugo war nicht ganz bei sich, als Sie ihm die Frage gestellt haben. Er stand unter dem Einfluss der Drogen, die ihm verabreicht wurden, wie es die Blutuntersuchungen beweisen werden. Ich bitte Sie daher, Ihre Position zu überdenken und ihm die Frage ein weiteres Mal zu stellen – jetzt, wo er vielleicht wieder im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist.“
    „Wir sind nicht dazu verpflichtet.“
    Ein kurzes Funkeln hinter der Brille.
    „Sie haben Recht. Daher appelliere ich an Ihre … Menschlichkeit und an Ihr Rechtsgefühl – lassen Sie einen Moment die Paragraphen beiseite.“
    „Meine … Menschlichkeit ?“
    „Ja. Genau dieses Wort hat die Person gebraucht, die mich schickt. Sie wissen ja, von wem ich spreche.“
    Der Anwalt sah ihn unverwandt an, während er auf eine Antwort wartete.
    Er wusste von Marianne und ihm …
    Servaz spürte, wie ihn die Wut überkam.
    „Ich raten Ihnen ab …“
    „Wie Sie sich denken können“, unterbrach ihn der Anwalt, „gehen ihr die Ereignisse sehr nahe. ‚Nahegehen‘ ist noch weit untertrieben … Die Worte ‚verzweifelt‘, ‚am Boden zerstört‘, ‚entsetzt‘ wären zutreffender. Es wäre eine ganz kleine Geste, Commandant. Ich will Ihnen keinesfalls Knüppel zwischen die Beine werfen. Ich bin nicht hier, um Ihnen das Leben schwer zu machen, ich will ihn nur sehen. Sie bittet Sie inständig, mich vorzulassen. Versetzen Sie sich in ihre Lage. Stellen Sie sich vor, wie Sie sich fühlen würden, wenn statt Hugo Ihre Tochter festgenommen worden wäre. Zehn Minuten. Nicht eine mehr.“
    Der Anwalt sah ihm gerade in die Augen. Servaz versuchte in seinem Blick Verachtung, Niedergeschlagenheit oder Verlegenheit zu lesen, aber da war nichts dergleichen. Er sah nur sein eigenes Spiegelbild in der Brille.
    „Zehn Minuten.“

Samstag

10
     
    Erinnerungen
    Als würde der Himmel eher seine Galle als seine Tränen vergießen, als würde jemand dort oben einen schmutzigen Schwamm über ihnen auswringen – so peitschte der Regen ohne Unterlass die Straßen und die Wälder aus

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