Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
einem Himmel, der graugelb war wie ein verwesender Leichnam. Die Luft war schwül, klebrig und feucht zugleich. Samstag, der 12. Juni. Es war noch keine acht Uhr morgens. Servaz war bereits wieder auf dem Weg nach Marsac, diesmal alleine.
In einer der Gewahrsamszellen hatte er kaum zwei Stunden geschlafen, sich auf der Toilette die Achseln und das Gesicht gewaschen und mit Papierhandtüchern aus dem Spender trocken gerieben. Es fiel ihm schwer, die Augen offen zu halten.
Eine Hand am Steuer, in der anderen eine mit lauwarmem Kaffee gefüllte Thermosflasche, blinzelte er im gleichen schläfrigen Rhythmus, in dem die Scheibenwischer hin- und herpendelten. Zwischen den Fingern der Hand, die die Thermosflasche hielt, hatte er noch eine Zigarette eingeklemmt, an der er gierig zog. An alles erinnerte er sich mit bestechender Deutlichkeit, verblüffender Klarheit – als wäre sein Gedächtnis plötzlich hell beleuchtet. Die Jahre seiner Jugend. Sie hatte nach der Landschaft geschmeckt, die er gerade durchquerte. Im Herbst wirbelte sein Auto welkes Laub auf, wenn er mit bis zum Anschlag aufgedrehter Stereoanlage bis über die Straßen bretterte; die trostlosen, stillen langen Flure in ihrem grauen Licht, während in den unendlichen Novemberwochen unaufhörlich der Regen fiel; und dann das blendende Weiß des ersten Dezemberschnees, in der Weihnachtszeit die Rockmusik, die fröhlich aus den Schlafsälen hallte, und im Frühling dann die Knospen und die Blumen, die wie ein Sirenengesang, ein verlorenes Paradies, überall sprießten und blühten und sie lockten, gerade in dem Moment hinauszuziehen, in dem sich der Arbeitsrhythmus verschärfte und April und Mai mit ihren schriftlichen Prüfungen näher rückten. Und schließlich die brütende Hitze der Juni-Tage, der erdrückende blassblaue Himmel, das allzu helle Licht und das Summen der Insekten.
Und natürlich die Gesichter.
Dutzende … Jugendliche, ehrliche, verschlagene, spirituelle, fromme, konzentrierte, herzliche Gesichter, allesamt voller Hoffnung, Träume und Ungeduld. Und dann Marsac: seine Kneipen, sein Programmkino, in dem Bergman, Tarkowski und Godard auf dem Spielplan standen, seine Straßen und Grünanlagen. Er hatte diese Jahre geliebt. Gott weiß wie sehr er sie geliebt hatte. Auch wenn er sie damals in einer Art Sorglosigkeit durchlebte, in der sich überwältigende Glücksmomente und Phasen tiefer Niedergeschlagenheit abwechselten.
Das schlimmste Erlebnis hieß Marianne …
Zwanzig Jahre später war die Wunde, von der er damals geglaubt hatte, dass sie nie vernarben würde, geschlossen – und er konnte diese Zeit mit dem distanzierten Interesse eines Archäologen betrachten. Zumindest hatte er das bis gestern geglaubt.
Er bog in die schnurgerade Platanenallee am Stadtrand ein, und der Cherokee holperte über die alten Pflastersteine, als er sich durch die Straßen schlängelte. Die Stadt sah völlig anders aus als in der Dunkelheit von gestern Abend. Die glatten Gesichter der Studenten unter ihren glänzenden K-Ways, die Reihen von Fahrrädern, die Schaufenster, die Kneipen, die Fassaden, die dunklen, tropfnassen Vordächer der Caféterrassen: Alles kam ihm vertraut vor – als hätte sich seit zwanzig Jahren nichts verändert, als hätte ihm die Vergangenheit in all diesen Jahren zuversichtlich aufgelauert, um ihn an der Kehle zu packen und kopfüber in seine Erinnerungen zu schleudern.
11
Freunde und Feinde
Er stieg aus dem Wagen und betrachtete eine Gruppe von Gymnasiasten, die im strömenden Regen an ihm vorbeitrippelten, angeführt von einem finster blickenden Turnlehrer – und er erinnerte sich an einen ähnlichen Lehrer, der seine Schüler gern demütigte und abhärtete. Servaz ging die Eingangstreppe hinauf und sah zu, wie sich die Pferde auf der großen Wiese bewegten. Unerschütterlich.
„Commandant Servaz“, stellte er sich der Sekretärin vor, die im Büro hinter der Eingangshalle saß, „ich möchte den Direktor sprechen.“
Sie warf einen abschätzigen Blick auf seine nassen Kleider.
„Haben Sie einen Termin?“
„Ich ermittle im Mordfall Claire Diemar.“
Er sah, wie sich hinter der Brille ihr Blick verschleierte. Die Frau hob den Hörer ab und redete leise hinein. Dann stand sie auf.
„Das ist nicht nötig. Ich kenne den Weg“, sagte er.
Er sah sie eine Sekunde lang zögern und sich dann wieder setzen; man sah ihr an, dass sie etwas auf dem Herzen hatte.
„Madame Diemar …“, sagte sie. „ Claire … Sie
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