Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
einer gewesen. Als sie unter dem gleichgültigen Blick eines stahlgrauen Himmels das unter Schnee begrabene, von dichtem Tannenwald überzogene Tal hinaufgefahren waren.
Dann die abgelegene Klinik. Das Institut Wargnier. Steinerne Mauern, typisch für diese Bergarchitektur vom Anfang des 20. Jahrhunderts, bei den Hotels aus dieser Zeit genauso wie bei den Wasserkraftwerken. Eine Zeit, in der man für die Ewigkeit baute, an die Zukunft glaubte. Menschenleere Gänge, Panzertüren und biometrische Sicherheitsvorkehrungen, Kameras und Wächter. Aber so viele Bewacher auch wieder nicht, wenn man bedachte, wie viele hochgefährliche Insassen in dieser Anstalt untergebracht waren. Und ringsum nichts als Gebirge: riesig hoch, feindselig und verstörend. Wie ein zweites Gefängnis.
Und dann dieser Mann.
Julian Alois Hirtmann. 45 Jahre, geboren in Hermance, in der französischen Schweiz. Servaz und er hatten nur eine Gemeinsamkeit: die Musik von Gustav Mahler. Beide kannten das Werk des österreichischen Komponisten in und auswendig. Sonst aber verband sie nichts: der eine war Kripobeamter, der andere ein Serienmörder, der sich vor zwei Jahren auf und davon gemacht hatte. Hirtmann, ehemaliger Genfer Staatsanwalt, der in seiner Villa am Ufer des Genfer Sees Orgien feierte, war wegen des Doppelmordes an seiner Frau und deren Liebhaber in der Nacht auf den 21. Juni 2004 verhaftet worden. Wenig später wurden in seiner Villa Unterlagen gefunden, die darauf hindeuteten, dass der Schweizer über einen Zeitraum von 25 Jahren womöglich gut vierzig weitere Morde begangen hatte. Das machte ihn zu einem der furchtbarsten Serienmörder der Neuzeit. Nachd mehreren psychiatrischen Anstalten war er schließlich im Institut Wargnier gelandet, einer einzigartigen Einrichtung in Europa, in der mordlüsterne Bestien interniert waren, die von den Gerichten ihrer Länder für schuldunfähig erklärt worden waren. Servaz war an den Ermittlungen beteiligt gewesen, die Hirtmanns Flucht vorangegangen waren – und sie in gewisser Weise ausgelöst hatten. Kurz vor Hirtmanns Ausbruch war Servaz ihm noch in seiner Zelle begegnet.
Nach seiner Flucht hatte sich der Schweizer sich in Luft aufgelöst: Er verschwand in einer Rauchwolke wie der Geist aus der Lampe. Servaz war fest davon überzeugt, dass er eines Tages wieder auftauchen würde. Ohne angemessene Behandlung würden sein Jagdinstinkt und seine Mordlust früher oder später wieder erwachen.
Was nicht bedeutete, dass es leicht wäre, ihn zu fassen.
Der Kriminalpsychologe Simon Propp, der an den Ermittlungen beteiligt war, hatte darauf hingewiesen, dass Hirtmann nicht nur ein intelligenter Manipulator und Soziopath war: Selbst unter den sogenannten „organisierten“ Mördern war er eine Ausnahme. Er gehörte zu der äußerst seltenen Kategorie von Mördern, die neben ihren kriminellen Aktivitäten noch vielfältige und befriedigende soziale Kontakte pflegten. Anders als bei den meisten Triebmördern wirkte sich die Persönlichkeitsstörung, an der er litt, bei ihm nicht auf die intellektuellen Fähigkeiten und sein Sozialverhalten aus. Der Schweizer hatte zwanzig Jahre lang hohe Ämter am Landgericht Genf bekleidet – in dieser Zeit hatte er mehr als vierzig Frauen entführt, gefoltert und ermordet. Die Fahndung nach Hirtmann hatte höchste Priorität: Zielfahnder in Paris und in Genf versuchten ihm auf die Spur zu kommen. Servaz hatte keine Ahnung, wie weit ihre Ermittlungen gediehen waren – aber irgendwo hatte er ihre Telefonnummern.
Vor seinem inneren Auge sah er Hirtmann in seiner Zelle: Er trug einen Overall und ein weißes T-Shirt mit Grauschleier, er hatte tiefbraunes Haar, aber sehr blasse, fast durchscheinende Haut, war abgemagert und unrasiert und doch zugleich umgänglich, lächelnd und äußerst höflich. Servaz war sich sicher, dass Hirtmann selbst als Obdachloser noch diese Kultiviertheit und Höflichkeit ausgestrahlt hätte. Nie hätte man in ihm einen Serienmörder vermutet. Da war nur sein Blick: elektrisierend wie ein Taser und seltsam starr und durchdringend. Seine Miene hatte etwas Strenges, Tadelndes, doch zugleich war sein Mund der eines Genießers. Er hätte gut einen der scheinheiligen Prediger in Salem, Massachusetts, gegeben, die 1692 vermeintliche Hexen auf den Scheiterhaufen schickten, einen Inquisitor oder einen Ankläger in den Stalinschen Schauprozessen … Oder eben das, was er war: ein unerbittlicher Staatsanwalt, der in seiner Villa sadomasochistische
Weitere Kostenlose Bücher