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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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Lehrern gefällt.“
    Vor allem dir gefällt das nicht, du hartherziger alter Sack , dachte der Polizist.
    „Solange die Ermittlungen dauern … es handelt sich um einen Tatort “, antwortete er mit einem Zwinkern. „Sie sind lebendig, ihre Kollegin ist tot – das sollte ihnen genügen.“
    Der Mann zuckte mit den Schultern und öffnete die Tür.
    „Hier ist es.“
    Er schien gar nicht eintreten zu wollen. Servaz schob sich an ihm vorbei und stieg über die Blumensträuße und die Kerzen hinweg.
    „Danke.“
    „Brauchen Sie mich noch?“
    „Im Moment nicht. Ich glaube, den Ausgang finde ich allein.“
    „Hm. Denken Sie daran, mir den Schlüssel zu bringen, wenn Sie fertig sind.“
    Er nickte ein letztes Mal. Servaz sah ihm nach, wie er sich entfernte.
    Er streifte sich Handschuhe über und machte die Tür zu. Ein weißes Zimmer. In völliger Unordnung. Der Schreibtisch in der Mitte war begraben unter einem Berg von Blättern, Bechern voller Kugelschreiber, Filzstifte, Tintenroller, Bleistifte, Aktenmappen mit Gummibändern, Blocks mit bunten Post-it-Notizzetteln, einer Lampe und einem Telefon. Dahinter ein Fenster aus sechs Scheiben, die höher als breit waren – drei große und drei kleine darüber. Servaz sah durch das Fenster die Bäume der beiden Pausenhöfe: der für die Gymnasiasten und der für die Schüler der Khâgne, und noch dahinter den Wald und die vom Regen gepeitschten Sportplätze. Drei weiße Regale mit Büchern und Ordnern bedeckten die rechte Wand auf ganzer Länge. Links vom Fenster in einer Ecke ein massiver Computer, wie sie schon lange nicht mehr produziert wurden. Die linke Wand schließlich war vollständig von Dutzenden von Zeichnungen und Reproduktionen von Kunstwerken überdeckt, die lückenlos, manchmal sogar überlappend an die Wand gepinnt waren und dort eine Art buntgemusterte Schuppenhaut bildeten. Die meisten davon kannte er.
    Langsam ließ er den Blick durch den Raum gleiten. Er ging um den Schreibtisch herum und setzte sich auf den Sessel.
    Was suchte er? Zunächst einmal wollte er den Menschen verstehen, der hier gelebt und gearbeitet hatte. Selbst ein Büro ist ein Spiegel der Persönlichkeit dessen, der darin tätig ist. Was sah er? Er sah eine Frau, die sich gern mit schönen Dingen umgab. Sie hatte auch das Büro mit dem schönsten Ausblick auf den Wald und die Sportplätze ausgewählt. Um sich von einer anderen Art Schönheit durchdringen zu lassen?
     
    Die Schönheit wird KONVULSIV sein oder nicht sein.
     
    Der Satz war inmitten der Reproduktionen und Zeichnungen in dicken Lettern auf die Wand geschrieben. Servaz wusste, von wem dieser Satz stammte. André Breton. Was hatte Claire in diesem Satz gesehen? Er stand auf und trat an gegenüberliegende Wand mit den Büchern. Antike Literatur (bekanntes Gelände), zeitgenössische Autoren, Theater, Lyrik, Wörterbücher – und eine Menge Bücher über Kunstgeschichte: Vasari, Vitruv, Gombrich, Panofsky, Winckelmann …
    Plötzlich dachte er an die Bücher, die sein Vater gelesen hatte. Ganz ähnlich wie die von Claire …
    Ein Metallkeil, in Höhe des Herzens in den Körper gerammt. Nicht tief genug, um zu töten, aber doch so tief, dass es wehtat … Wie lange muss ein Sohn den Schatten eines toten Vaters hinter sich herschleppen? Sein Blick lag auf den Buchrücken, aber er sah weit darüber hinaus. In seiner Jugend hatte er geglaubt, er wäre ihn los; er hatte geglaubt, diese Erinnerung würde sich mit der Zeit abschwächen und schließlich vollkommen verblassen. Wie alle anderen. Aber nach und nach war ihm bewusst geworden, dass der Schatten noch immer da war. Dass er nur lauerte, bis er den Kopf abwandte. Anders als er hatte der Schatten die Ewigkeit auf seiner Seite. Und er sagte klar und deutlich: Ich werde dich nie loslassen.
    Er wusste jetzt, die Erinnerung an eine Frau, die man geliebt hat, konnte man loswerden, an einen Freund, der einen verraten hat; nicht aber die an einen Vater, der sich umgebracht hat und der dafür gesorgt hat, dass du – du! – seine Leiche finden musst.
    Zum tausendsten Mal sah Servaz das Abendlicht vor sich, das flach durch das Bürofenster fiel und die Bucheinbände liebkoste wie in einem Bergman-Film, den Staub, der in der Luft schwebte. Auch die Musik hörte er wieder: Mahler. Er sah seinen toten Vater mit geöffnetem Mund in seinem Sessel sitzen; weißer Schaum tropfte ihm vom Kinn. Gift … Wie Seneca, wie Sokrates. Sein Vater hatte ihm diese Musik und diese Autoren

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