Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
nahegebracht, damals, als sein Vater noch ein nüchterner, von seinen Schülern geschätzter Lehrer gewesen war. Sein Vater hatte Servaz‘ Mutter überlebt – genauer gesagt: die Vergewaltigung und Ermordung seiner Mutter, da, vor seinen Augen … Zehn Jahre lang hatte er einen langsamen Abstieg in die Hölle durchgemacht, zehn Jahre, in denen er sich dafür bestrafte, dass er nichts hatte tun können, als er an einen Stuhl gefesselt war und sie anflehte, aufzuhören, diese beiden ausgehungerten Wölfe, die eines Juliabends bei ihnen aufkreuzten … Und dann, eines schönen Tages, hatte sein Vater beschlossen, Schluss zu machen. Wirklich. Diesmal kein langsamer Säufertod: ein Schlusspunkt nach Art der Antike … Gift … Und sein Vater hatte dafür gesorgt, dass ihn sein Sohn entdeckte. Warum? Servaz hatte nie eine befriedigende Antwort auf diese Frage gefunden. Aber einige Wochen, nachdem er die Leiche seines Vaters entdeckt hatte, hatte er sein Studium abgebrochen und die Aufnahmeprüfung für die Polizeiakademie gemacht. Er schüttelte sich. Konzentrier dich! Was suchst du hier? Konzentrier dich, Mist! Allmählich erahnte einen Teil der Persönlichkeit von Claire Diemar. Eine Frau, die allein lebte, aber bestimmt keine Einzelgängerin war, eine Frau, die die Schönheit liebte, elitär, originell und etwas unkonventionell war. Eine frustrierte Künstlerin, die sich mit dem Lehrberuf begnügte.
Plötzlich fiel ihm auf dem Schreibtisch ein aufgeschlagenes Heft in die Augen. Er beugte sich vor und las:
Freund ist manchmal ein sinnleeres Wort, Feind niemals.
Auf der ersten Seite.
Er blätterte die übrigen Seiten um. Sie waren weiß … Führte das Heft an die Nase. Neu … Ganz offensichtlich hatte Claire Diemar es vor kurzem gekauft. Verblüfft las er den Satz noch einmal. Was hatte sie damit sagen wollen? Und an wen richtete er sich? An sie selbst oder an jemand anderen? Er schrieb ihn in sein Notizbuch.
Er dachte wieder an das Handy des Opfers.
Wenn Hugo der Täter war, hatte er keinen Grund, es verschwinden zu lassen, wo ihn schon so viele Indizien belasteten: seine Anwesenheit am Tatort, sein Zustand, sein eigenes Handy in seiner Tasche, das seine zahlreichen Anrufe an sie bezeugte. Es war absurd. Und wenn der Mörder nicht Hugo war und das Handy des Opfers verschwinden ließ, dann war er ein Idiot. Mit oder ohne Telefon würden ihnen die Netzbetreiber binnen Stunden die Liste der unter der Nummer der jungen Frau ein- und ausgehenden Anrufe zukommen lassen. Und danach? Waren die meisten Kriminellen nicht glücklicherweise Dummköpfe? Nur: wenn Hugo unter Drogen gesetzt und an den Tatort gebracht wurde, um als Sündenbock zu dienen, wenn sich im Dunkeln irgendwo ein geschickter Zauberkünstler versteckte, dann konnte der nicht so dumm sein, dass er einen solchen Fehler beging.
Es gab noch eine dritte Lösung. Hugo war der Täter und das Telefon war aus Gründen verschwunden, die nichts mit dem Verbrechen zu tun hatten. Bei Ermittlungen in einem Kriminalfall gab es oft ein nicht passendes kleines Puzzleteil, das wie ein Dorn im Fuß der Ermittler steckte, bis sie eines Tages erkannten, dass es mit dem Rest absolut nichts zu tun hatte.
Es war stickig im Raum, und er öffnete weit die mittlere Fensterscheibe. Ein feuchter Luftzug strich ihm über das Gesicht. Er setzte sich an den Rechner. Der uralte Apparat ächzte und quietschte einen Moment, ehe der Bildschirmhintergrund angezeigt wurde. Kein Passwort. Servaz klickte auf das Symbol des E-Mail-Kontos. Diesmal brauchte er ein Passwort. Er sah in seine Aufzeichnungen, probierte mehrere Kombinationen mit dem Geburtsdatum und den Initialen in der richtigen und der umgekehrten Reihenfolge. Nichts passierte. Er tippte das Wort Puppen. Auch nicht. Claire unterrichtete Sprachen und Kultur der Antike, und so verbrachte er die nächste halbe Stunde damit, Namen griechischer und lateinischer Philosophen und Dichter zu testen, Werktitel, Namen von Göttern und Sagengestalten – und sogar Wörter wie „Orakel“ oder „Rhetra“, den Orakelspruch. Jedes Mal erschien die Meldung „Nutzername oder Passwort falsch“.
Schon wollte er es aufgeben, als er sich noch einmal die mit Bildern behängte Wand und den darauf geschriebenen Satz ansah. Er tippte André Breton , und endlich ging das E-Mail-Konto auf.
Leer. Ein weißer Bildschirm. Nicht die kleinste Nachricht.
Servaz klickte auf „gesendete Objekte“ und auf „Papierkorb“. Dasselbe. Er lehnte sich
Weitere Kostenlose Bücher