Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
wieder in den Sessel zurück.
Jemand hatte die E-Mails von Claire Diemar gelöscht.
Servaz wusste jetzt ganz sicher, dass dieser Fall nicht so einfach war, wie er aussah. Es gab einen toten Winkel. Zu vieles passte nicht zusammen. Auf seinem Handy rief er die Abteilung für digitale Spurensicherung an. Beim zweiten Läuten antwortete ihm eine Stimme.
„War ein Computer bei Claire Diemar?“, fragte er.
„Ja, ein Notebook.“
Mittlerweile wurden die Kontakte und die Festplatten von Verbrechensopfern routinemäßig überprüft.
„Habt ihr ihn untersucht?“
„Noch nicht“, antwortete die Stimme.
„Kannst du einen Blick auf die E-Mails werfen?“
„In Ordnung, ich mache gerade noch eine Sache zu Ende, dann setz ich mich dran.“
Er beugte sich über den alten PC und zog sämtliche Stecker. Auch den Festnetz-Apparat trennte er vom Netz, nachdem er den Wust von Papieren angehoben hatte, um dem Kabel zu folgen. Aus seiner Jacke zog er einen Beweismittelbeutel und steckte das aufgeschlagene Heft hinein.
Er machte die Bürotür auf, ging zurück, um das Telefon und das Heft auf den Computer zu stapeln, und nahm alles hoch. Der Rechner war sperrig und schwer. Zweimal musste Pause machen und seine Last auf den Stufen abstellen, ehe er den Fuß der Treppe erreichte. Dann ging er durch den langen Flur Richtung Eingangshalle.
Mit dem Hintern stieß er die Flügeltür auf, trat auf die Treppe hinaus, wo er die Last ein weiteres Mal abstellte, fischte den elektronischen Autoschlüssel aus der Tasche, entriegelte den Geländewagen und hastete durch den Regen zu seinem Cherokee. Er wollte den Computer und das Telefon bei der digitalen Spurensicherung abgeben und das Heft vom Erkennungsdienst untersuchen lassen. Als er alles auf der Rückbank verstaut hatte, richtete er sich auf und zündete eine Zigarette an.
Der Kragen seiner Jacke und seines Hemdes waren mittlerweile vom Regen durchnässt, aber er spürte es gar nicht. Viel zu tief war er in seine Gedanken versunken. Er zog an seiner Zigarette, und der Tabakrauch prickelte wonnevoll durch seine Lungen und sein Gehirn. Der Regen legte einen kühlen, dünnen Schleier auf sein Gesicht. Die Musik … Wieder hörte er sie. Die Kindertotenlieder … Konnte das sein?
Er sah sich um – als könnte er hier sein -, und plötzlich blieb sein Auge an etwas hängen.
Da war wirklich jemand.
Eine Gestalt. In flaschengrüner Regenkleidung. Der Kopf im Schatten einer Kapuze. Darunter sah er schemenhaft die untere Hälfte eines jugendlichen Gesichts.
Ein Schüler.
Er beobachtete Servaz von einem kleinen Hügel aus etwa zehn Metern Entfernung; er hatte die Hände in die Taschen seines Regencapes gesteckt und stand unter einer kleinen Baumgruppe. Ein angedeutetes Lächeln schwebte auf seinen Lippen. Als würden sie sich kennen, dachte Servaz.
„He, Sie da!“, rief er.
Der junge Mann wandte sich in aller Ruhe ab und stapfte gemächlich zu den Unterrichtsräumen. Servaz musste ihm nachlaufen.
„He, warten Sie!“
Der Schüler wandte sich um. Er war etwas größer als Servaz, und eine blonde Strähne und ein blonder Bart glänzten im Schatten der Kapuze. Große helle Augen mit fragendem Ausdruck. Hochgezogene Mundwinkel. Sofort fragte sich Servaz, ob Margot ihn kannte.
„Pardon? Sprechen Sie mit mir?“
„Ja. Guten Tag. Wissen Sie, wo ich Herrn Van Acker finden kann? Unterrichtet er samstagsmorgens?“
„Saal 4, der Betonklotz da unten … Aber an Ihrer Stelle würde ich warten, bis er mit dem Unterricht fertig ist. Er mag keine Störungen.“
„Oh …“
Servaz sah den jungen Mann amüsiert an. Der lächelte noch breiter zurück.
„Sie sind der Vater von Margot, oder?“
Servaz stutzte. Sein Telefon vibrierte in seiner Tasche, aber er ignorierte es.
„Und Sie, wer sind Sie?“
Der junge Mann streckte ihm aus dem Cape eine Hand entgegen.
„David. Ich bin in der Khâgne. Sehr erfreut.“
Dann war David also in der gleichen Klasse wie Hugo. Er schüttelte die ausgestreckte Hand. Ein offener und fester Händedruck.
„Sie kennen also Margot?“
„Hier kennt jeder jeden. Und Margot fällt auf.“
Das hat Hugo auch gesagt …
„Und woher wissen Sie, dass ich ihr Vater bin?“
Der junge Mann sah ihn aus seinen goldbraunen Augen fest an.
„Ich war hier, als Sie zum ersten Mal mit ihr hier waren.“
„Ah, verstehe.“
„Falls Sie sie suchen sollten: Sie hat bestimmt Unterricht.“
„Hatten Sie Claire Diemar als Lehrerin?“
Der junge Mann hielt
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