Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Madame Bovary, Anna Karenina und Effi Briest . Drei Romane, die zwischen 1857 und 1894 veröffentlicht wurden und die Form des modernen Romans maßgeblich prägten. Gibt es hier vielleicht wundersamerweise jemanden, der alle drei gelesen hat? Gibt es diesen weißen Raben? Nein? Hat jemand wenigstens eine Vorstellung von der Gemeinsamkeit zwischen diesen drei Büchern?“
Schweigen, dann:
„Es sind drei Werke über Frauen, die Ehebruch begangen haben.“
Servaz zuckte zusammen. Das war Margot.
„Ganz genau, Mademoiselle Servaz. Wie ich sehe, gibt es in dieser Klasse wenigstens eine, die sich nicht mit der Lektüre von Spiderman begnügt. Drei Geschichten über Ehebrecherinnen, interessanterweise alle von Männern geschrieben. Drei verschiedene, aber gleich eindrucksvolle Bearbeitungen desselben Themas. Drei absolute Meisterwerke. Was beweist, dass der Satz von Hemmingway, wonach man über das schreiben muss, was man kennt, ausgemachter Blödsinn ist. Wie eine Vielzahl anderer Sprüche des lieben alten Ernest. Also dann. Ich weiß, dass einige von Ihnen bestimmt schon Pläne für das Wochenende haben und dass das Schuljahr gewissermaßen bereits gelaufen ist, aber ich will, dass Sie diese drei Bücher bis Ende nächster Woche gelesen habt. Und vergessen Sie nicht, dass ich am Montag Ihre Aufsätze erwarte.“
Stühle quietschten. Er trat hinter die Ecke des Gebäudes. Er wollte Margot jetzt nicht über den Weg laufen, er würde sie später besuchen. Er sah, wie sie sich inmitten all der anderen Schüler entfernte. Margot unterhielt sich mit zwei Mädchen. Er verließ sein Versteck in dem Moment, als Van Acker die drei Betonstufen hinunterstieg und seinen Regenschirm öffnete.
„Guten Tag, Francis.“
Van Acker stutzte leicht. Der Regenschirm drehte sich.
„Martin … Nach dem, was passiert ist, hätte ich wohl mit deinem Besuch rechnen müssen.“
Die blauen Augen blickten noch genauso stechend. Die wulstige Nase, die dünnen, aber sinnlichen Lippen, der sorgsam gestutzte Vollbart. Francis Van Acker hatte sich nicht verändert. Er strahlte buchstäblich. Nur einige graue Fäden durchwirkten seinen Bart und seine kastanienbraune Haarsträhne, die ihm in die Stirn fiel.
„Was sagt man sich in solchen Fällen?“, spöttelte er. „ Es ist eine Ewigkeit her … “
„ Es entflieht die unwiederbringliche Zeit “, antwortete Servaz.
Van Acker lächelte strahlend:
„ Fugit irreparabile tempus … Du warst immer der Beste in Latein. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr mich das gefuchst hat.“
„Das ist deine Schwäche, Francis. Du wolltest immer überall der Erste sein.“
Van Acker antwortete nicht. Seine Miene verschloss sich ein wenig. Aber im nächsten Moment war das provozierende Lächeln wieder da.
„Du bist nie wieder hiergewesen. Warum?“
„Sag du es mir …“
Van Acker ließ ihn nicht aus den Augen. Trotz der Feuchtigkeit trug er die gleiche dunkelblaue Samtjacke wie immer. Servaz hatte noch nie etwas anderes an ihm gesehen. Zu ihrer Studienzeit war war das sogar ein beliebter Scherz gewesen: Francis Van Ackers Schrank hing voller gleich aussehender blauer Sakkos und weißer Hemden einer berühmten amerikanischen Marke.
„Nun, wir wissen alle beide warum, Edmond Dantès“, sagte Van Acker.
Servaz bekam einen trockenen Mund.
„ Wie der Graf von Morcerf habe ich dir deine Mercedes geraubt. Nur dass ich sie nicht geheiratet habe. “
Für den Bruchteil einer Sekunde loderte die Wut im Bauch von Servaz wie frisch angefachte Glut. Dann wurde sie wieder von der Asche der Jahre zugedeckt.
„Ich habe gehört, dass Claire auf entsetzliche Weise ums Leben gekommen ist.“
„Was erzählt man sich in Marsac?“
„Du kennst Marsac, hier bleibt nichts verborgen. Die Gendarmen haben sich recht … gesprächig gezeigt. Die Buschtrommel hat ein Übriges getan. Gefesselt und in ihrer Badewanne ertränkt, wie es heißt. Stimmt das?“
„Kein Kommentar.“
„Allmächtiger! Dabei war sie total in Ordnung. Brillant. Unabhängig. Eigensinnig. Leidenschaftlich. Ihre pädagogischen Methoden gefielen nicht allen, aber ich fand sie recht … interessant.“
Servaz nickte. Sie gingen an den Betonklötzen mit den schmutzigen Fenstern entlang.
„Was für ein entsetzlicher Tod … Man muss verrückt sein, um jemanden auf diese Weise umzubringen.“
„Oder sehr wütend“, korrigierte Servaz.
„ Ira furor brevis est . ‚Die Wut ist ein kurzer Wahn‘.“
Sie gingen jetzt an den
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