Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
entspannt – aber er fragte sich, wohin sie das führen mochte. Ihm wurde bewusst, dass er unwillkürlich all ihre Bewegungen verfolgte, dass er wie elektrisiert war von der Art und Weise, wie sie den Raum ausfüllte. Sie entkorkte die Flasche und schenkte ihm nach. Beide hatten keine Lust mehr zu reden, aber unter ihrer blonden Strähne warf sie ihm immer wieder Blicke zu. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass sich ein anderes Gefühl in seinem Bauch ausbreitete: Er begehrte sie. Leidenschaftlich. Es hatte nichts mit ihrer Vergangenheit zu tun. Er begehrte diese Frau, die Marianne von heute, mit ihren vierzig Jahren.
Um 1.10 Uhr morgens war er wieder in seiner Wohnung. Er duschte sehr heiß, um die Müdigkeit loszuwerden, die seine Muskeln bleischwer machte, während aus der Stereoanlage im Wohnzimmer leise Mahlers 4. Symphonie erklang. Er ließ all das, was er in den letzten 24 Stunden herausgefunden hatte, noch einmal Revue passieren, und versuchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
Servaz fragte sich manchmal, weshalb er diese Symphonien so sehr liebte. Wahrscheinlich weil es geschlossene Welten waren, in denen er aufgehen konnte, weil er darin der gleichen Gewalt, den gleichen Schreien, Schmerzen, Wirren, Auseinandersetzungen und düsteren Vorzeichen begegnete, die auch da draußen auf der Straße existierten. Mahler zu hören bedeutete, einem Weg zu folgen, der aus der Dunkelheit ans Licht führte und umgekehrt, von grenzenloser Freude in Stürme, in denen der Kahn des menschlichen Daseins ins Wanken gerät und schließlich kippt. Die größten Dirigenten hatten sich an diesem Mount Everest der symphonischen Kunst versucht, und er sammelte die Interpretationen wie andere seltene Briefmarken oder Muscheln: Bernstein, Fischer-Dieskau, Reiner, Kondraschin, Klemperer, Inbal …
Doch hielt ihn die Musik nicht vom Nachdenken ab. Im Gegenteil. Er musste unbedingt ein wenig schlafen, fünf oder sechs Stunden, aber Ruhe würde er erst finden, wenn er die rohen Fakten und Eindrücke geordnet und klassifiziert hätte – damit er wusste, wo er am Morgen weiterbohren musste.
Es war Sonntag, aber er hatte keine andere Wahl: Er musste sein Ermittlungsteam zusammentrommeln, der Polizeigewahrsam würde in einigen Stunden enden. In Anbetracht der belastenden Indizien würde der Haftrichter keine Sekunde zögern, Untersuchungshaft anzuordnen. Marianne wäre am Boden zerstört, und der Junge würde dabei seine Unschuld verlieren; nach einigen Tagen im Knast würde er die Welt nie mehr so sehen wie zuvor. Die Dringlichkeit hielt Servaz auf Trab. Er nahm seinen Stenoblock und begann, die wichtigsten Fakten zu rekapitulieren:
1. Hugo am Rand des Swimmingpools von Claire Diemar vorgefunden; sie selbst tot in ihrer Badewanne.
2. Behauptet, unter Drogen gesetzt worden und im Wohnzimmer des Opfers aufgewacht zu sein.
3. Keine Spur, die auf die Anwesenheit einer weiteren Person hindeutet.
4. Sein Freund David sagt, er hat die Kneipe Dubliners vor dem Fußballspiel Uruguay – Frankreich verlassen: reichlich Zeit, um Claire aufzusuchen und zu töten. Sagt außerdem, Hugo habe sich unwohl gefühlt: Vorwand oder Tatsache?
5. Als die Gendarmerie ihn gefunden hat, stand er offensichtlich unter Drogeneinfluss. 2 Hypothesen: bekam Drogen verabreicht/hat sich selbst bekifft.
6. Die Kippen. Jemand spionierte Claire aus. Hugo oder jemand anderes? Nach Aussage von Margot und Marianne raucht Hugo nicht.
7. Hirtmanns Lieblingsmusik im CD-Spieler.
8. Wer hat die E-Mails von Claire gelöscht? Warum sollte sich Hugo diese Mühe machen, während er sein eigenes Handy nicht anrührte? Wer hat das Handy des Opfers verschwinden lassen?
9. Bezieht sich der Satz: „Freund ist manchmal ein sinnleeres Wort, Feind niemals“ auf Hugo? Ist er überhaupt relevant?
10. Wer ist Thomas999?
Servaz unterstrich die beiden letzten Fragen. An seinem Stift lutschend las er, was er geschrieben hatte. Die Antwort auf Frage Nr. 10 würde ihnen die Abteilung für digitale Spurensicherung bald liefern. Damit kämen die Ermittlungen ein gutes Stück voran. Langsam ging er die Fakten noch einmal durch und leitete daraus eine Chronologie ab: Kurz vor dem Beginn des Fußballspiels Uruguay – Frankreich hatte Hugo das Pub verlassen; etwa anderthalb Stunden später sah ihn ein Nachbar am Rand des Schwimmbeckens von Claire Diemar sitzen, und kurz darauf traf ihn die Gendarmerie verstört und offensichtlich unter Alkohol- und Drogeneinfluss dort an,
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