Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
zurückgelassen hatte. „Ich habe euch geliebt. Alle beide. Ich habe euch weiß Gott geliebt. Aber ihr wart unzugänglich, Martin: Du mit der Last der Erinnerung an deine Mutter, deinen Hass auf deinen Vater, und dieser Wut, an der du noch heute trägst; und Francis mit seinem Ego.“ Mathieu war wohltuend, Mathieu verlangte nichts für das, was er gab. Er war einfach immer da, wenn sie ihn brauchte. Servaz hörte zu, wie sie all diese Jahre abspulte, bestimmt mit vielen Auslassungen, Retuschen und Beschönigungen, aber tun wir das nicht alle? Zur Zeit ihrer Freundschaft hätte niemand – und Marianne zuletzt – auch nur ein Centime auf Bokhas Zukunft gewettet; und doch hatte er nicht nur menschliches Fingerspitzengefühl, sondern auch hohes Maß an praktischer Intelligenz bewiesen, die man damals, als Francis und Martin endlos über Bücher, Musik, Kino und Konzepte diskutierten, kaum bemerkt hatte. Bokha hatte BWL studiert, eine eigene Kette von Computerläden aufgezogen und ebenso unerwartet wie schnell ein kleines Vermögen angehäuft.
Inzwischen wurde Hugo geboren. Bokha, der Mittelmäßige, der Tollpatsch, das kleine Würstchen der Clique, besaß jetzt alles, was ein Mann sich wünschen konnte: Geld, Anerkennung, das schönste Mädchen weit und breit, ein Haus und einen Sohn.
Zu viel Glück wahrscheinlich – das fand zumindest Marianne, und er dachte, ohne es zu sagen, an die Hybris , die Maßlosigkeit, eine der Hauptsünden bei den alten Griechen: Wer diese Sünde beging, machte sich schuldig, weil er mehr begehrte, als ihm zustand, und zog sich dadurch den Zorn der Götter zu. Mathieu Bokhanowsky war eines Abends auf der Rückfahrt von der Eröffnung seines x-ten Geschäfts mit seinem Wagen tödlich verunglückt. Es hatte Gerüchte gegeben. Zu viel Alkohol. In seinem Wagen seien auch Spuren von Kokain gefunden worden. Allein sei er auch nicht gewesen: Seine hübsche Sekretärin habe mit im Auto gesessen und sei mit einigen Prellungen davongekommen.
„Verleumdungen, Lügen, Neid“, stellte Marianne keuchend klar.
Sie hatte ihre Knie hochgezogen, und ihre nackten Füße klammerten sich wie Klauen an den Rand des Holzstuhls. Einen Augenblick lang betrachtete er sie, diese hübschen gebräunten Füße, die dicke Vene, die quer über den Rist lief. Mit einer Regelmäßigkeit, die zum Verzweifeln war, peitschte der Regen noch immer die Oberfläche des Sees.
„Es wurde auch gemunkelt, Mathieu sei pleite gewesen. Das stimmte nicht. Er hatte sein Geld in Lebensversicherungen, in Wertpapieren angelegt, aber ich habe mir Arbeit gesucht, um das Haus nicht verkaufen zu müssen. Ich richte die Wohnungen von Leuten ein, die keinen Geschmack haben, ich entwerfe Websites für Unternehmen und Körperschaften … Das hat nur noch wenig mit unseren Künstlerträumen zu tun, aber doch mehr als …“ Sie stockte, aber er wusste, was sie beinahe gesagt hätte: … als wenn man Polizist ist. „Ich habe Hugo allein großgezogen, seit er elf ist“, fuhr sie fort und drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus. „Ich glaube, ich habe meine Sache nicht allzu schlecht gemacht. Hugo ist unschuldig, Martin … Wenn du ihn anklagst, schickst du nicht nur meinen Sohn ins Gefängnis, sondern einen Unschuldigen.“
Er verstand die Botschaft. Sie würde es ihm nie verzeihen.
„Das hängt nicht nur von mir ab“, antwortete er. „Dafür ist der Richter zuständig.“
„Aber es hängt doch davon ab, was du ihm sagst.“
„Kommen wir auf Claire zurück. Es hat in Marsac doch bestimmt Leute gegeben, die ihren Lebenswandel missbilligt haben.“
Sie nickte.
„Natürlich. Klatsch gab es immer zuhauf. Wenn ich nach Mathieus Tod Besuch von verheirateten Männern bekam, wurde auch über mich getratscht.“
„Dich haben verheiratete Männer besucht?“
„In allen Ehren. Francis hat dir vielleicht gesagt, dass ich hier ein paar Freunde habe. Sie haben mir geholfen, darüber hinwegzukommen. Diese Polizisten-Allüren sind ja was ganze Neues an dir!“
„Ist wohl eine Berufskrankheit“, sagte er.
Sie stand auf.
„Vergiss deinen Beruf mal ab und an.“
Der Tonfall traf ihn wie ein Peitschenhieb, aber sie linderte ihn, als sie ihm im Vorübergehen eine Hand auf die Schulter legte. Sie schaltete das Terrassenlicht an. Der Himmel wurde dunkel. Servaz hörte Frösche quaken. Insekten umschwirrten die Lampe, Dunstschwaden begannen von der Wasserfläche aufzusteigen.
Sie kam mit einer neuen Flasche wieder. Er fühlte sich wohl,
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